Amelia Peabody 10: Die Hüter von Luxor
dar?« hatte er sarkastisch gefragt. »Du weißt doch genau, daß dieses ›Weihnachten‹ nichts weiter ist als das alte Fest der Wintersonnenwende. Keiner kennt das Jahr, in dem der Bursche geboren wurde, und schon gar nicht den Tag, und außerdem …«
Mein Gewissen verbietet mir allerdings, Emersons Schmährede auf das Christentum wiederzugeben.
Als wir ins Tal aufbrachen, schritt Abdullah wie so oft neben mir her. Er glaubte ernsthaft, mir behilflich zu sein, deshalb reichte ich ihm an den steileren Abhängen meine Hand; und als wir das Plateau erreichten, schlug ich taktvoll eine kurze Rast vor, bevor wir den anderen folgten.
»Wir sind nicht mehr so jung wie früher«, meinte Abdullah, der sich keuchend auf einem Felsblock niedergelassen hatte.
»Keiner von uns. Aber was macht das schon? Es dauert vielleicht etwas länger, bis wir den Abstieg geschafft haben, aber wir werden zweifellos unten ankommen!«
Abdullahs Mundwinkel zuckten. »Aus deinen Worten spricht wie immer die Weisheit, Sitt.«
Er schien es nicht eilig zu haben, den Weg fortzusetzen, deshalb blieben wir eine Zeitlang schweigend sitzen. Die Luft war kühl und rein. Die Sonne war gerade über den östlichen Klippen aufgegangen, und ihre ersten Strahlen tauchten die Landschaft in ein farbenfrohes Kaleidoskop. Das graue Gestein schimmerte silbriggolden, der bleiche Fluß azurblau, die blaßgrünen Felder wie funkelnde Smaragde. Nach einer Weile ergriff Abdullah das Wort. »Glaubst du, Sitt, daß wir schon einmal auf dieser Erde gelebt haben und wiedergeboren werden?«
Die Frage überraschte mich nicht nur deshalb, weil philosophische Exkurse für Abdullah ungewöhnlich waren, sondern weil er damit unbewußt meine eigenen Gedanken reflektierte. Ich hatte darüber nachgedacht, daß die goldenen Paläste des Himmels nicht schöner sein konnten als das Morgenlicht auf den Klippen von Theben und daß meine Vorstellung vom Paradies eine Fortführung des Lebens darstellte, das ich im Hier und Jetzt liebte und mit meinen Lieben teilte.
»Ich weiß es nicht, Abdullah. Manchmal frage ich mich das … Aber nein. Unser christlicher Glaube deckt sich nicht mit dieser Vorstellung.«
Der islamische Glaube ebenfalls nicht. Doch das ließ Abdullah unerwähnt. »Ich habe mich das auch gefragt. Aber es gibt nur einen Weg, um sich Gewißheit zu verschaffen, und daraufbin ich keineswegs erpicht.« »Ich auch nicht«, sagte ich lächelnd. »Dieses Leben zeigt sich mir von seiner angenehmsten Seite. Ich befürchte allerdings, daß wir eine ziemlich stumpfsinnige Saison erleben werden, Abdullah. Emerson ist über die Maßen gelangweilt von seinen kleinen Gräbern.«
»Ich auch«, bemerkte Abdullah.
Schnaufend erhob er sich und reichte mir seine Hand, um mir beim Aufstehen behilflich zu sein. In schweigendem Einvernehmen schlenderten wir weiter. Er war gelangweilt, ich war gelangweilt, Emerson war gelangweilt. Wir alle waren gelangweilt und sehnten uns nach einer Abwechslung, aber es gab nichts, was ich hätte tun können. Brütend folgte ich dem vertrauten Pfad in den schmalen Seitenwadi, in dem wir arbeiteten.
Die Grabstätte von Amenophis II. lag an dessen Ende, allerdings beschäftigten wir uns mit den kleinen Felsengräbern, die die Strecke bis zum Haupttal säumten. Die meisten davon hatte Ned Ayrton in der zurückliegenden Saison mit Mr. Davis entdeckt. Er hatte nur die interessanten Objekte entfernt, und das waren wenige gewesen. Drei der armseligen kleinen Gräber hatten Tierbestattungen gedient. Das war mit Sicherheit eine Rarität – ein sandfarbener, aufrecht stehender Hund mit aufgerichtetem Schwanz, Auge in Auge mit einem mumifizierten Affen und einem kauernden Pavian, der eine hübsche Kette aus kleinen blauen Perlen trug –, dennoch konnte ich verstehen, warum Neds Gönner die Entdeckungen jener Saison nicht überwältigend gefunden hatte.
Emerson entdeckte natürlich Objekte, die Ned übersehen hatte. Er findet immer irgendwelche Dinge, denen andere Archäologen keine Beachtung schenken. Es gab mehrere interessante Inschriften (die in unserer nächsten Publikation übersetzt und erklärt werden) und eine Reihe von Perlen und Tonscherben, die meinen Gatten zu einer bemerkenswerten Theorie hinsichtlich der Regierungszeit Amenophis II. veranlaßten. Diese Einzelheiten werden den werten Leser allerdings noch weniger interessieren als (offen gestanden) mich seinerzeit.
Aus Manuskript H
Ruckartig setzte sich Ramses auf. Zunächst konnte er sich
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