Amelia Peabody 11: Der Fluch des Falken
nach seiner Heimat. Er schickte dem Pharao einen reumütigen Brief, woraufhin ihm dieser verzieh und ihn aus dem Exil zurückholte. Er wurde in feinstes Leinen gehüllt und mit kostbarem Öl gesalbt, bekam ein Haus mit Garten und eine prachtvolle Grabstätte, und er war glücklich bis an sein Lebensende.«
»Was geschah mit seiner asiatischen Frau und den Kindern?« wollte Katherine wissen.
»Er verließ sie schlicht und einfach«, erwiderte Ramses. »Er war ein Schuft und ein Hasardeur und ein entsetzlicher Lackaffe.«
»Das war nicht besonders nett von ihm«, bekräftigte Nefret. Sie betrachtete gerade die letzte zauberhaft kolorierte Skizze, die den alten Mann zeigte, der im Schatten sattgrüner Bäume neben einem blaßblauen Teich voller Lotusblüten saß. In der Ferne zeichneten sich die Umrisse der königlichen Pyramide ab, neben der Sinuhes Grab errichtet worden war. Das faltige Gesicht wirkte ergreifend friedlich.
»Dennoch sind seine Empfindungen irgendwie verständlich«, fuhr sie fort. »Trotz all seines Erfolgs und seines Glücks war er immer noch im Exil. Er wollte nach Hause zurückkehren.«
»Trotzdem war er ein Schuft«, beharrte Ramses.
Nefret lachte, und Mr. Lawrence musterte Ramses argwöhnisch. Ich glaube, er hatte die Ironie in dessen Worten bemerkt – insbesondere bei einem Wort.
Wie üblich ließen wir unser Fest mit traditionellen Weihnachtsliedern ausklingen. Der Frohsinn war Besinnlichkeit gewichen, und einige der Gäste schluckten unüberhörbar, während sie die vertrauten und geliebten Weisen anstimmten. Karl schluchzte, als er »Stille Nacht« zu singen versuchte; Jack Reynolds legte ihm mitfühlend den Arm um die Schultern, reichte ihm sein eigenes Taschentuch und sang den deutschen Text – wenn auch mit starkem amerikanischem Akzent – weiter. Ich war erfreut, daß die stimmungsvolle Atmosphäre dieses Tages den Amerikaner in einen mir bis dahin unbekannten, sympathischen Mann verwandelt hatte. Allerdings fiel mir auch die Tatsache auf, daß Jack der deutschen Sprache mächtig war. Ich hoffe, daß ich so gefühlvoll bin wie jeder andere Mensch, trotzdem sollten Gefühle niemals die menschliche Ratio untergraben.
Emerson sang lauter als alle anderen, doch gemeinsam gelang es uns, ihn zu überstimmen. Immerhin hatte er viel Spaß.
Nach und nach verabschiedeten sich die älteren Gäste. Nefret blieb am Klavier sitzen, spielte einige Melodien und summte leise vor sich hin. Ich begleitete Karl zur Tür und fragte Mr. Fisher, der gleichzeitig aufbrach, ob er Karl nach Hause bringen könnte. Karl versicherte mir immer wieder seine aufrichtige Bewunderung und versuchte meine Hand zu küssen. »Und wenn ich für Sie in den Tod gehen soll, Frau Emerson, dann müssen Sie es nur sagen«, bemerkte er. »Sie haben sich einem einsamen Mann als Freundin erwiesen und einem Sünder ein Verbrechen verziehen, das er sich selbst niemals vergeben wird. Ihre Großherzig–«
Allerdings verhaspelte er sich bei den Silben und fand kein Ende, so daß ich ihn sanft, aber bestimmt an Mr. Fishers Brust drückte und beiden eine gute Nacht wünschte. Arm in Arm schlenderten sie singend davon. Mr. Fisher stimmte »The Holly and the Ivy« an und Karl »Vom Himmel hoch«. Beide waren beschwipst.
Bei meiner Rückkehr in den Salon versuchte Nefret Ramses soeben zu überreden, mit ihr gemeinsam zu singen. Er besaß eine recht angenehme Stimme, und ihr Duett klang sehr schön, doch er erklärte sich so gut wie nie bereit, vor Fremden zu singen. Vermutlich hielt er das für unter seiner Würde. Geoffrey bot sich an, seinen Part zu übernehmen, und wir kamen in den Genuß eines schönen, kleinen Konzerts mit unseren alten Lieblingsliedern und den neuesten Stücken aus Variete und Theater. »When I was Twenty-One and You Were Sweet Sixteen« war in jenem Jahr überaus beliebt; im sanften Lampenschein wirkte Geoffrey mit seinen zerzausten Locken kaum älter, doch er verfügte über einen erstaunlich tiefen Bariton. Ich erinnere mich, daß er eines von Harry Lauders schottischen Liedern mit verblüffendem Schwung und einem so übertriebenen Akzent vortrug, daß wir alle schmunzelten. Ich hatte ihn noch nie so ausgelassen erlebt.
Aus Briefsammlung B
Liebe Lia
ich bombardiere Dich mit Briefen, nicht wahr? Allerdings mußte ich auf Deinen letzten rasch antworten, da er mir etwas vorwurfsvoll klang. Lia, mein Schatz, keiner wird Dich jemals als meine Vertraute ersetzen, und schon gar nicht Maude Reynolds! Wenn ich
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