Amelia Peabody 11: Der Fluch des Falken
unseren Innenhof. Ich hatte mein Bestes versucht, diesen mit Girlanden aus Weihnachtssternen und bunten Laternen zu schmücken. An Nefrets Mistelzweigen hingen noch vereinzelte Beeren.
Da sich die meisten Gäste kannten und alle guter Dinge zu sein schienen, beschloß ich, meine Pflichten als Gastgeberin vorübergehend zu vernachlässigen und mich statt dessen einer kurzen klärenden Selbstbeobachtung hinzugeben. Als ich mich in einen dämmrigen Winkel zurückziehen wollte, stellte ich zu meiner Verblüffung fest, daß dieser bereits besetzt war. Ich hüstelte unüberhörbar, und die beiden Gestalten stoben auseinander.
»Biete Miss Maude eine Tasse Tee an, Ramses«, schlug ich vor. »Es sei denn, sie möchte lieber Kaffee.«
»Ja, Mutter.«
Als er sie zum Teetisch führte, warf sie mir im Vorübergehen einen bitterbösen Blick zu, allerdings meinte ich, aus Ramses’ Stimme Erleichterung herausgehört zu haben. Wenigstens hoffte ich das. Ich hatte zwar nichts gegen das Mädchen, dennoch entsprach sie nicht meinen Vorstellungen von einer Schwiegertochter. Ägypten schien ihr nicht gut zu bekommen. Während des Abendessens war mir aufgefallen, daß sie etwas angegriffen aussah und daß sie in ihrem Essen lediglich herumstocherte. Möglicherweise hatte ihr das von Nefret für sie ausgesuchte Geschenk nicht gefallen – ein schöner, mit Silberund Goldfäden durchwirkter Schal aus Damaskus. Vielleicht hatte sie etwas Persönlicheres erwartet.
Es war nicht das erste Mal, daß sich Ramses mit den Nachstellungen einer jungen Frau konfrontiert sah, und sicherlich auch nicht das letzte Mal. Ich glaube nicht, daß er daran grundsätzlich immer selbst die Schuld trug. Soweit ich das beurteilen konnte, hatte er das Mädchen keineswegs ermutigt. Natürlich hatte ich keine Ahnung, was er hinter meinem Rücken tat.
Wie schon so häufig zuvor redete ich mir ein, daß mich die Liebesgeschichten der Kinder nichts angingen, und konzentrierte mein Denken auf wichtigere Überlegungen.
Die Informationen von Mr. Wardani hatten die Situation eigentlich nicht verändert. Ich glaubte ihm nicht etwa, weil ich seiner Wahrheitsliebe vertraute (denn ich wußte aus Erfahrung, daß die ›gute Sache‹ häufig negative Auswirkung auf die Moral der sie vertretenden Personen ausübt), sondern weil seine Äußerungen sämtliche unserer bislang gefundenen Hinweise bestätigten.
Das machte die Situation lediglich noch verzwickter. Wir waren immer davon ausgegangen, daß der Schuldige kein Unbekannter sein konnte – sondern ein Fachkollege oder eine Bekanntschaft, wenn nicht sogar ein Freund. Wir waren der Aufdeckung seiner Identität keinen Schritt nähergekommen, dennoch mußte er das Gegenteil annehmen, da er uns ansonsten nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Ich glaubte keineswegs, daß es sich beim Einsturz der Mastaba um einen Unfall gehandelt hatte. In Anbetracht dieses Zwischenfalls und des zuvor auf mich ausgeübten Anschlags nahm Emersons vermeintlicher Unfall an unserem ersten Exkavationstag erschreckende Züge an. Die interessante Tonscherbe konnte heimtückisch so plaziert worden sein, daß er während seines Abstiegs auf vorsätzlich gelockertes Geröll treten mußte.
Der vor unserer Abreise aus England stattgefundene Einbruch im Amarna House war völlig anders gelagert. Damals hatte niemand beabsichtigt, uns körperlichen Schaden zuzufügen. Einziges Ziel war die erneute Inbesitznahme des gefälschten Skarabäus gewesen. Dieser Zwischenfall warf zwei Fragen auf: Woher wußte der Schurke, daß wir dieses Stück besaßen, und warum hatte er es unbedingt wieder in seinen Besitz bringen wollen? Die einzig logische Antwort auf letztere Frage lautete, daß der Skarabäus uns möglicherweise irgendeinen Hinweis auf die Identität des Fälschers geliefert hätte.
Vielleicht, so sinnierte ich, hatten wir diesem Vorfall zu wenig Bedeutung beigemessen. Ramses war derjenige gewesen, der den Skarabäus intensiv untersucht hatte. In der Tat … Ja, er mußte die Inschrift übersetzt haben, da er sich des Ursprungs recht sicher gewesen war. Soweit ich Ramses kannte, und ich wage zu behaupten, daß ich ihn ziemlich gut kannte – wenn auch durch die leidvollen Erfahrungen, die nur einer Mutter vergönnt sind –, hatte er die Übersetzung schriftlich fixiert oder sich zumindest umfangreiche Notizen gemacht. Wir mußten uns diese Übersetzung einmal genauer ansehen. Ich würde niemals behaupten, daß ich über Fachkompetenz
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