Amelia Peabody 11: Der Fluch des Falken
Ramses tatsächlich grinste. Nachdem Emerson sich einen letzten Bissen Toast in den Mund gesteckt hatte, verließ er das Zimmer und bat Ramses mitzukommen. Mein Sohn blieb vor meinem Stuhl stehen, beugte sich zu mir hinunter und gab mir einen flüchtigen Kuß auf die Wange. Eigentlich landete er auf meinem Ohr, doch ich glaube, daß er für meine Wange bestimmt war. Als ich mich ihm zuwandte, trat er zurück und sah mich verstört an.
»Paß auf deinen Vater auf«, sagte ich leise. »Unauffällig, versteht sich. Er macht sich absolut keine Gedanken um seine eigene Sicherheit, und der von ihm in Aussicht gestellte Plan ist vermutlich gefährlich.«
»Ich weiß, Mutter. Ich versuche mein Bestes.«
»Und gib auf dich acht. Sei vorsichtig. Geh kein unnötiges Risiko ein.«
»Ja, Mutter. Danke, Mutter.«
»Ramses?«
»Ja, Mutter?«
»Mach dir keine Sorgen wegen Nefret. Ich werde bei den Vandergelts vorbeischauen und sie zurückholen.« »Ich mache mir um sie keine Sorgen«, erwiderte Ramses. »Sie ist ein freier Mensch und kann tun und lassen, was sie will.«
Ich war selbst etwas bestürzt wegen Nefret. Wir alle sympathisierten mit ihrer Einstellung hinsichtlich der Männer, die die bedauernswerten Frauen erniedrigten, denen sie zu helfen versuchte. Trotzdem hatte sie meiner Ansicht nach etwas überreagiert. Zweifellos hatte sie mittlerweile darüber nachgedacht und war sicherlich beschämt, weil sie ihren Bruder voreilig verurteilt hatte. Ich hatte keinerlei Bedenken, ihr schlechtes Gewissen noch zu verstärken. Wenn ich bei den Vandergelts vorbeischaute, schlug ich sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe, denn ich konnte es kaum erwarten, ihnen die Situation darzulegen.
Cyrus hatte die Valley of the Kings in der Nähe von Gizeh vor Anker gehen lassen. Das war nur ein kurzer Spaziergang, dennoch nahm ich Alis Angebot an, mir eine Droschke zu besorgen, da ich Katherine und Nefret nach Kairo mitnehmen wollte. Nach einem angenehmen morgendlichen Einkaufsbummel für das Kind würden wir zum Mittagessen nach Hause zurückkehren. Cyrus konnte dort auf uns warten oder die Exkavation aufsuchen.
Diesen Plan arbeitete ich während der fünfminütigen Fahrt zum Hafen aus. Eine der Fähren war gerade eingelaufen, so daß ich mir einen Weg durch die Touristenströme bahnen mußte, um in den südlichen Bereich zu gelangen, wo die Dahabije vor Anker lag. Eines der an der Reling stehenden Besatzungsmitglieder bemerkte mich und erkannte mich sofort. Er beeilte sich, den Bootssteg auszulegen, und brüllte so laut, daß Cyrus an Deck auftauchte.
»Alle Achtung, ich hatte nicht erwartet, Sie so bald wiederzusehen«, entfuhr es ihm. »Rechnete fest damit, daß Sie nach Zawiet aufgebrochen wären.«
»Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen, Cyrus.« »Bei Ihnen wäre das nie der Fall, Amelia. Kommen Sie und trinken Sie einen Kaffee mit uns, wir sitzen gerade beim Frühstück.«
Cyrus lebte wie ein Fürst; der Tisch war mit feinstem Kristall und Silber eingedeckt. Die goldfarbenen Damastportieren vor den riesigen Salonfenstern waren zurückgezogen und ließen das Sonnenlicht herein, das die herrlichen Farben der Orientteppiche prachtvoll zur Geltung brachte. Katherine sprang von ihrem Stuhl auf und umarmte mich.
»Wie schön, Sie zu sehen, Amelia. Wir wollten heute abend bei Ihnen vorbeischauen, weil wir schon seit einigen Tagen nichts mehr von Ihnen gehört haben.«
»Wir waren sehr stark eingebunden, Katherine. Zweifellos hat Nefret Ihnen den gestrigen Zwischenfall geschildert. Wo ist sie?«
»Aber, Amelia, ich habe keine Ahnung.« Katherines Lächeln verschwand. »Wieso dachten Sie, daß sie bei uns wäre? Was ist denn passiert?«
»Gütiger Himmel«, seufzte ich, denn mir hatte es den Atem verschlagen. »Ihr habt sie nicht gesehen?«
»Nun beruhigt euch doch, meine Lieben«, bemerkte Cyrus in seinem schleppenden, gedehnten Tonfall. »Laßt uns zunächst die Lage peilen, und dann werden wir wissen, was zu tun ist. Immer eins nach dem anderen. Hat Miss Nefret gesagt, daß sie zu uns wollte, Amelia?«
»Nein. Nein, was sie sagte – besser gesagt, schrieb –, war, daß sie einige Tage bei Freunden verbringen wollte. Ich ging davon aus …«
»Das ist verständlich. Aber wir sind beileibe nicht ihre einzigen Freunde, und vielleicht möchte ein junges Mädchen wie sie lieber mit Gleichaltrigen Zusammensein. Das war gestern, sagten Sie? So so. Nun, wir werden sie schon aufspüren, machen Sie sich keine Sorgen. Und jetzt
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