Amelia Peabody 11: Der Fluch des Falken
Ihre Loyalität gebührte jetzt in erster Linie einem anderen, und obwohl mir klar war, daß Geoffrey nicht der von uns gesuchte Schurke sein konnte, war es dennoch ungewiß, ob wir auf seine Diskretion oder sein Verständnis zählen durften. Ramses’ und Davids nächtliche Aktivitäten gestalteten die ohnehin heikle Situation um so prekärer.
Diese Erkenntnis machte mir erneut bewußt, wie nahe unsere Familie sich immer gestanden hatte. Irgendwann würde Geoffrey sicherlich auch zu unserem engen Kreis zählen. Zweifellos. Jeder normale Mensch brauchte eine gewisse Zeit, bis er sich an uns gewöhnte.
Lia und David schlenderten davon, allerdings nicht, um zu photographieren, sondern um einige Stunden Schlaf nachzuholen. Wir anderen widmeten uns erneut der Arbeit im Schacht. Die Dimension der Tiergruft wurde deutlich, sobald wir tiefer gruben. Sie war schmaler als der eigentliche Schacht, und Emersons Vermutung, daß sie erheblich späteren Ursprungs war, bestätigte sich aufgrund einiger Funde von Fayence-Amuletten und hölzernen Tierfiguren, die bei den Knochen lagen. David und Lia nahmen das Mittagessen mit uns ein; ich war froh, daß der Bursche wesentlich erholter aussah, und als wir unsere Arbeit im Schacht wieder aufnahmen, begleitete er uns. Wir förderten immer noch Knochen zutage, als eine plötzliche Bewölkung am Himmel die Szenerie in ein merkwürdiges Zwielicht tauchte.
»Verflucht!« zischte David, der gerade etwas zu bergen versuchte.
Emerson warf einen frustrierten Blick in die Wolkendecke. Von den Strahlen der verdeckten Sonne durchbrochen, hing sie wie ein violetter Vorhang am westlichen Himmel. »Verflucht«, wiederholte er.
Ihn beunruhigten keineswegs die zunehmenden Schwierigkeiten bei den Photoarbeiten, sondern die möglichen Konsequenzen eines Wolkenbruchs. Umgehend brüllte er seine Befehle.
»Nefret, hör auf, diese Knochen zu sortieren und verstau sie statt dessen in Körben. Selim – Daoud – entfernt das Segeltuch von unserem Rastplatz und zieht es über die Exkavation. Wir brauchen schwere Steine, um die Ecken zu befestigen. David, pack die Kameraausrüstung zusammen. Peabody – Lia –«
Ich war bereits auf dem Weg zu unserem Schutzzelt, um unsere Notizen und Unterlagen sowie den restlichen Proviant einzupacken. Es war ein erhebender Anblick, wie alle fluchtartig ihren Aufgaben nachgingen. Der Regen ließ auf sich warten, aber der Himmel verdunkelte sich zunehmend, und der einsetzende Wind zerrte so heftig an dem Segeltuch, daß wir es nur mit Mühe ausbreiten und befestigen konnten. Die angeworbenen Arbeiter marschierten in ihr Dorf zurück; nur unsere loyalen Männer blieben und arbeiteten genauso fieberhaft wie wir. Ich lag bäuchlings auf einem Stück Segeltuch, hielt es fest, bis Daoud einen weiteren Stein geholt hatte, und bewunderte die ungewöhnliche Witterungsveränderung. Der Osthimmel war klar, und doch überschattete bedrohliches Dämmerlicht die Felder. In nördlicher Richtung hoben sich die Silhouetten der Pyramiden schwarz vor dem glutroten Himmel ab. Eine weitere Silhouette wurde sichtbar – Pferd und Reiter näherten sich uns in gemächlichem Tempo. An Rishas eleganten Konturen bestand kein Zweifel, und auch nicht an denen unseres Sohnes. Irgend jemand hat einmal behauptet, daß Ramses wie ein Zentaur ritt, und in diesem Augenblick war die Ähnlichkeit verblüffend, denn Roß und Reiter gingen fließend ineinander über.
Er war noch ein ganzes Stück entfernt, als ein lautes Krachen meine Aufmerksamkeit erregte. Ein weiterer identischer Laut, und mir war alles klar. Ich hatte nicht etwa ein Donnern wahrgenommen, sondern eine Gewehrsalve. Ich sprang gerade noch rechtzeitig auf, um einen dritten Schuß zu hören und Ramses vornüber auf die Mähne des Pferdes fallen zu sehen.
Dort verharrte er, und als Risha schließlich stehenblieb, richtete er sich auf und blickte mit besonders blasiertem Gesichtsausdruck auf die aufgeregte Gruppe, die ihn und seinen Hengst umringte. Wir waren in aller Eile losgerannt, genau wie Risha, der in unsere Richtung galoppiert war. Nachdem er seinen Reiter abgeliefert hatte, wandte er den Kopf und schnüffelte forschend an Ramses’ Arm. Mein Sohn musterte mich mit fragend hochgezogenen Brauen.
»Steck deine Pistole weg, Mutter. Darf ich fragen, wen du zu erschießen versuchtest?«
Fassungslos starrte ich auf meine Pistole. Mir war gar nicht bewußt gewesen, daß ich sie aus meiner Jackentasche gezogen hatte. Emerson umklammerte
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