Amelia Peabody 11: Der Fluch des Falken
auf ihr Zimmer gebracht worden war, schlenderte er aufgrund seiner Ruhelosigkeit zu den Stallungen. Ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen zu haben, ritt er in Richtung Wüste; die Weiten des Himmels und der unberührte Sand verhalfen ihm stets zu einem klaren Kopf. Diesmal hätte er sich allerdings gewünscht, daß seine Ratio nicht so ausgeprägt und er von Wut und Eifersucht getrieben wä re; aber die Beweislage spitzte sich zu, und alles deutete auf denselben Mann. Er hoffte, daß er sich irrte. Von all seinen persönlichen Problemen gestaltete sich dieses als das schlimmste.
Er ließ Risha das Tempo bestimmen und achtete kaum auf seine Umgebung, bis ein kalter Wind sein Haar aus der Stirn wehte und plötzliche Bewölkung eintrat. Als er aufblickte, bemerkte er das herannahende Unwetter; es lag zwar noch in weiter Ferne, schien sich aber bedrohlich zusammenzubrauen. Unwillkürlich hatte Risha die Richtung eingeschlagen, in die sie schon so oft geritten waren;
sie waren kaum eine Meile von Zawiet entfernt. Er entschied, daß er ebensogut weiterreiten und seine Hilfe anbieten könnte, sofern die anderen noch dort waren. Wie er seinen Vater kannte, war das vermutlich der Fall. Er befand sich bereits in Sichtweite der kleinen Gruppe, als der erste Schuß so nah an ihm vorüberpeitschte, daß er hätte beschwören können, dessen Windgeräusche gehört zu haben. Seine Hände griffen in die Zügel, doch Risha, dessen Instinkte bei weitem besser ausgeprägt waren, verfiel in einen geschmeidigen, atemberaubenden Galopp.
Nachdem seine aufgebrachte Familie schließlich ihre Kritik und ihre Fragen eingestellt und ihn hinsichtlich irgendwelcher Einschußlöcher untersucht hatte, war es zwecklos, die Suche nach dem Gewehrschützen aufzunehmen.
Er und David brachten die Pferde in den Stall und rieben sie ab. Dort erfuhr er, womit er insgeheim bereits gerechnet hatte. Aber das war immer noch kein stichhaltiger Beweis, sagte er sich im stillen. Offensichtlich teilte keiner der anderen seinen Verdacht; sein Vater hätte ohne Umschweife Reynolds’ Haus gestürmt, wenn seine Mutter das nicht verhindert hätte. Deren Anweisungen befolgend, zogen er und David sich auf sein Zimmer zurück, um sich umzuziehen.
»Es muß Jack Reynolds sein«, meinte David, während Ramses seinen Kleiderschrank nach trockenen Sachen durchforstete.
»Den Gerüchten zufolge handelt es sich um einen Engländer.«
»Das bedeutet gar nichts. Wardani verwendete die Begriffe Sahib oder Effendi oder Engländer völlig wahllos; vermutlich meinte er damit eher eine bestimmte Gesellschaftsschicht und keine Nationalität.«
»Ich scheine keine frischen Hemden mehr zu haben«, murmelte Ramses.
»Du hast viele Sachen auf der Amelia deponiert.« David warf seine nassen Kleidungsstücke auf den Boden und unterstützte Ramses bei der Suche. Schließlich öffnete er ein Schubfach und griff hinein. »Was ist das?«
Er hatte die kleine Horus-Statue gefunden. »Maude hat sie mir geschenkt«, erklärte Ramses. »Es war ein Weihnachtspräsent. Ich vermute, sie kaufte sie im Souk.«
»Reizend, diese westliche Naivität«, murmelte David.
»Wie meinst du das?«
»Behaupten das nicht die Europäer von der ägyptischen Handwerkskunst? Daß sie primitiv und naiv ist? Das heißt lediglich, daß sie diese weder verstehen noch sich der Mühe unterziehen, diese besondere Tradition zu schätzen. Das hat kein Ägypter hergestellt.«
Ramses warf die soeben aus seinem Kleiderschrank gezerrte Galabija über einen Stuhl und trat zu David. »Woher weißt du das?«
»Das zu erklären ist schwierig. Die handwerkliche Arbeit ist wirklich recht gut; aber die Brust- und Armmuskulatur, die Gesichtszüge – nun, das ist eben nicht ägyptisch. Das entspricht westlichem Vorbild, obwohl der Künstler den klassischen Stil zu imitieren versuchte. Sie muß die Statue …«
Ihm versagte die Stimme, da er schlagartig die Konsequenz seiner Analyse begriff.
»Selbst gefertigt haben?« beendete Ramses den Satz.
»Warum hast du sie mir nicht schon eher gezeigt?« wollte David wissen.
»Weil ich mich wie ein Gentleman verhalten wollte«, entgegnete Ramses frustriert. »Es erschien mir indiskret, jemandem das Geschenk des Mädchens zu zeigen, insbesondere nachdem Nefret sich so schamlos darüber lustig machte. Außerdem ist mir der Gedanke nie gekommen. Mir fehlt einfach dein Sachverstand. Und Maude erwähnte ihr Hobby mit keinem Wort und zeigte uns auch nie irgendwelche Arbeitsproben
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