Amelia Peabody 11: Der Fluch des Falken
Zeit war knapp, und er wagte nicht, mehr als einen Stein zu entfernen. Er raubte, was er mit seinen Händen packen konnte, einschließlich der Beine der Begräbnisliege, da er den Rest in dieser Saison bergen wollte.«
Er vermied die Erwähnung von Geoffreys Namen – eine Angewohnheit, die wir uns alle zu eigen gemacht hatten.
»Er packte lediglich zu und zerrte die Artefakte dann nach oben, nicht wahr?« warf Lia ein. »Welch ein Chaos er damit angerichtet hat!«
»Besonders ordentlich war das Ganze auch vorher nicht«, erwiderte Ramses. »Offenbar handelt es sich um eine erneute Bestattung, und zwar in aller Eile. Die Grabräuber, die die ursprüngliche Gruft entdeckten, müssen gefaßt worden sein, bevor sie ihre gräßliche Tat vollendeten, und der gottesfürchtige Nachfolger von König Chaba, sofern es sich um diesen handelt, beschloß, die noch vorhandenen Grabbeigaben sorgfältiger zu verbergen. Äh … stimmst du mir zu, Vater?«
»Selbstverständlich, mein Junge, selbstverständlich. Und über mehr als viertausend Jahre blieb das Grab unangetastet – mit Ausnahme der naturgegebenen Verfallsprozesse. Sie verwendeten Zedernbalken für die Dachkonstruktion der Grabkammer und zum Abstützen der Felsquader, allerdings war das Holz von Liege und Sarkophag nicht so stabil. Sämtliche der dort unten liegenden Holzgegenstände werden bei der leichtesten Berührung zu Staub zerfallen.«
Lia hustete, und David legte seinen Arm um ihre Schultern. »Wir gehen ins Freie, Professor, sofern du uns nicht mehr brauchst.«
»Wir alle werden gehen«, sagte Emerson. »Komm, Peabody.«
Als wir ins Tageslicht hinaustraten, beschlich mich das Gefühl, daß ich nicht nur eine Strecke von mehreren hundert Metern hinter mir gelassen hatte, sondern auch eine Zeitspanne von 4500 Jahren. Der Fund war einzigartig; noch nie zuvor hatte man ein Königsgrab aus dieser frühen Epoche entdeckt. Und dieses zwar zweifellos unvollständige Grab würde die Frage nach dem ursprünglichen Besitzer der Pyramide lösen, neue Einblicke in den künstlerischen und gesellschaftlichen Status quo jener Ära liefern – und den Namen des berühmtesten Ägyptologen aller Zeiten in neuem Glanz erstrahlen lassen.
Wir reinigten und erfrischten uns, denn der stets dienstbeflissene Selim hatte Kannen mit Wasser herbeigeschafft. Emerson scharrte unsere Männer um sich. Noch bevor er sich artikulierte, wußte ich, was er sagen würde.
»Ich überlasse es dir, Selim, den Steinquader zurückzuschieben und die Stelle zu kaschieren. Ich weiß, daß du diese Arbeit ebenso sorgfältig verrichten wirst wie seinerzeit dein Vater, und ich vertraue darauf, daß keiner von euch auch nur ein Wort über den heutigen Fund verlauten läßt.«
Aufgrund des in ihn gesetzten Vertrauens glühte Selims Gesicht vor Stolz, dennoch erwiderte er lediglich: »Ja, Vater der Flüche. Dein Wunsch ist uns Befehl. Aber das Warten wird uns schwerfallen.«
»Uns allen«, bekräftigte Ramses mit einem Seitenblick auf seinen Vater, der ungeduldig an seinem Pfeifenmundstück kaute. Genau wie Emerson sprach er Arabisch. »Vor uns liegt mindestens eine Woche Arbeit, wenn wir die Methoden des Vaters der Flüche befolgen. Aber so viel Zeit bleibt uns nicht mehr.«
»Verstehe. Wir werden das Geheimnis wahren, und bei eurer Rückkehr wird das Grab sicher verschlossen und unangetastet auf euch warten.«
Das war also geklärt. Ich wußte, daß ich die Auflösung des Haushalts und die Einlagerung unserer Sachen Selim und Fatima überlassen konnte. Schließlich nahm ich nicht an, daß wir je wieder dieses Anwesen bewohnen würden. Zu viele negative Erinnerungen waren damit verknüpft.
Die Frage, was aus Sennia werden würde, beschäftigte mich eher marginal. Sie würde mit uns kommen, und das zum einen, weil ich eine panische Angst vor ihrem Temperamentsausbruch hatte, sofern ich ihr Ramses wegnahm, zum anderen, weil mein Sohn den Verdacht geäußert hatte, daß sie trotz der liebevollen Betreuung von Daoud und Kadija in Ägypten nicht sicher genug sei. Ich bezweifelte, daß Kalaan Hand an sie zu legen wagte – er war nach wie vor verschwunden und hätte einen Vergeltungsschlag Emersons nie riskiert –, trotzdem versuchte ich erst gar nicht, Ramses umzustimmen. Sie war das einzige Wesen, das ihn zum Lachen brachte.
Einige Tage vor unserem Aufbruch nach Port Said versammelten wir uns ein letztes Mal im Innenhof, gemeinsam mit Cyrus und Katherine, die sich von uns verabschieden wollten.
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