Amelia Peabody 12: Der Donner des Ra
beschuldigen? Ich hoffe, du hast ihm einen Kinnhaken verpasst!«
»Das war kaum möglich, da das freundliche Geschenk von einer Dame stammt«, erwiderte Ramses, während er die weiße Feder vorsichtig in seine Hemdtasche gleiten ließ.
»Wer?«, wollte ich wissen.
»Was tut das zur Sache? Es ist nicht die erste, die ich bekommen habe, und wird auch nicht die letzte sein.«
Seit Ausbruch des Krieges im August war eine ganze Menge Federvieh seines Gefieders entledigt worden – von patriotischen Damen, die diese Symbole der Feigheit den jungen, nicht uniformierten Männern überreichten. Grundsätzlich lehne ich Patriotismus nicht ab, doch meiner unmaßgeblichen Meinung nach ist es verachtenswert, jemanden so zu beschämen, dass er sich Gefahren stellt, von denen man auf Grund des eigenen Geschlechts, seines Alters oder physischer Inkompetenz ausgenommen ist. Zwei meiner Neffen und die Söhne vieler unserer Freunde waren auf dem Weg nach Frankreich. Ich hätte sie nicht zurückgehalten, es aber auch nicht mit meinem Gewissen vereinbaren können, sie zu diesem Schritt zu drängen.
Und ich fühlte mich keinesfalls verpflichtet, meinen Sohn mit dieser schmerzvollen Entscheidung zu konfrontieren.
Im Oktober waren wir nach Ägypten gereist, da mein geliebter Emerson (der berühmteste Ägyptologe seiner und jeder anderen Epoche) es niemandem – und schon gar nicht dem Kaiser – gestattet hätte, sich in seine alljährlichen Exkavationspläne einzumischen. Es war keine Flucht vor der Gefahr; vielleicht befanden wir uns schon bald in größerer Bedrängnis als diejenigen, die in England geblieben waren. Dass das Osmanische Reich letztlich auf Seiten Deutschlands und Österreich-Ungarns dem Krieg beitreten würde, bezweifelte niemand, der einen Funken Verstand besaß. Jahrelang hatte der Kaiser den Sultan hofiert, ihm riesige Geldsummen geliehen, Eisenbahntrassen und Brücken in Syrien und Palästina gebaut. Selbst hinter den von den Deutschen finanzierten archäologischen Expeditionen in diesem Gebiet vermutete man tiefere Beweggründe. Die Archäologie bietet eine hervorragende Tarnung für Spionagetätigkeit und Umsturz, und die Moralisten verkündeten mit Stolz, dass die Flagge des deutschen Kaiserreiches über der Ausgrabungsstätte von Megiddo flatterte, dem biblischen Armageddon.
Der Kriegsbeitritt der Türkei erfolgte am 5. November, diesem schloss sich die formelle Annexion Ägyptens durch die Briten an; das verschleierte Protektorat war ein offizielles geworden. Die Türken kontrollierten Palästina, und zwischen Palästina und Ägypten lagen die SinaiHalbinsel und der Suezkanal, die entscheidende britische Verbindung zum Osten. Die Einnahme des Kanals würde den Briten einen tödlichen Schlag versetzen. Eine Invasion Ägyptens würde mit Sicherheit folgen, denn das Osmanische Reich hatte den Verlust seiner früheren Provinz weder verziehen noch vergessen. Und im Westen Ägyptens wurden die kriegerischen Stämme der Senussi, bewaffnet und ausgebildet von den Türken, zu einer wachsenden Bedrohung für das britisch besetzte Ägypten.
Im Dezember war Kairo unter Kriegsrecht, die Presse zensiert, öffentliche Versammlungen (von Ägyptern) verboten, der ägyptische Vizekönig zugunsten seines kompromissbereiteren Onkels abgelöst, die sich entwickelnde Nationalistenbewegung unterdrückt und ihre Führer ins Exil oder Gefängnis verbannt. Diese bedauerlichen Maßnahmen wurden – zumindest in den Augen derer, die sie veranlassten – mit der zunehmenden Wahrscheinlichkeit eines Angriffs auf den Suezkanal gerechtfertigt. Ich konnte die nervliche Anspannung in Kairo zwar nachvollziehen, dennoch war sie meiner Meinung nach keine Entschuldigung für das rüde Verhalten gegenüber meinem Sohn.
»Es ist ungerecht«, entfuhr es mir. »Ich habe noch keinen einzigen jungen englischen Beamten in Kairo gesehen, der sich freiwillig gemeldet hätte. Warum konzentriert sich das öffentliche Interesse ausgerechnet auf dich?«
Ramses zuckte die Achseln. Seine Adoptivschwester hatte sein Gesicht wegen der ebenmäßigen und für gewöhnlich gleichmütigen Züge irgendwann einmal mit dem einer Pharaonenstatue verglichen. Augenblicklich wirkte es sogar noch unbewegter als sonst.
»Vielleicht habe ich in der Öffentlichkeit zu freimütig erklärt, was ich von diesem sinnlosen, überflüssigen Krieg halte. Vermutlich, weil ich nicht entsprechend erzogen wurde«, fügte er nachdenklich hinzu. »Du hast mich nie darauf hingewiesen,
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