Amelia Peabody 13: Der Herr der Schweigenden
Wer noch?«
»Das habe ich nicht gesagt«, erklärte Kuentz. Ramses hatte den Eindruck, dass er sich in seiner Rolle sonnte. »Ich und nur ich allein war dafür verantwortlich. Und jetzt muss ich zurück an die Arbeit, ich war lange genug weg.«
»Hätten Sie nicht Lust, heute Abend mit mir zu speisen? Ich logiere im Winter Palace.«
»Sie wollen also alles zu Papier bringen und dann wird mein Name in Ihrer Zeitung auftauchen?«
»Es wird nichts abgedruckt ohne Ihre Einwilligung.«
Nefrets Miene schlug in unverhohlene Fassungslosigkeit um. Kuentz lachte. »Was kümmert’s mich? Ein armer, hungriger Archäologe verschmäht kein kostenloses Mahl, schon gar nicht mit einer schönen Frau. Vielen Dank, ich werde kommen. Um acht, abgemacht? Und Sie, meine Freunde, die jungen Emersons, werden mich wieder in Deir el-Medine besuchen, wo ich Ihnen viel Interessantes zeigen kann.«
Nach einer Verbeugung entfernte er sich. Ramses schob seinen Stuhl zurück. »Ich vergaß, ihn etwas zu fragen. Entschuldigt mich.«
»Ist das wahr?«, erkundigte sich Miss Minton. »Was er über das Deutsche Haus gesagt hat? Dass es ein Zentrum des illegalen Antiquitätenhandels war?«
»Ich höre zum ersten Mal davon«, erwiderte Nefret wahrheitsgemäß. Ramses redete noch immer mit Kuentz. In dem Bewusstsein, dass er jegliches Zeitgefühl verlieren würde, wenn sie über die Archäologie diskutierten, winkte Nefret dem Kellner.
»Aber solche Aktivitäten haben sich in diesem Jahr verstärkt, nicht wahr?«
»Ich wusste gar nicht, dass Sie dieses Thema interessiert, Miss Minton.«
»Das wussten Sie nicht?« Ihr Tonfall ließ Nefret von den Münzen aufblicken, die sie auf dem Tisch abzählte. »Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass Sie das Manuskript nicht gelesen haben, das Mrs Emerson eingesteckt hatte – oh, natürlich nur versehentlich! Ich möchte wetten, Ihre ganze Familie hat lang und breit darüber diskutiert und im Zuge dessen meine Beweggründe durchleuchtet und meine Emotionen ausgelotet. Vielleicht haben Sie sogar herzhaft gelacht!«
Nefret fühlte, wie sie errötete. Damals hatte sie Mutters dreiste Aneignung (sie hätte es niemals als Diebstahl bezeichnet) des Dokuments nicht hinterfragt. Und doch war es in der Tat so, dass sie das intime Tagebuch eines Menschen gestohlen und es anderen gezeigt hatte. Die Autorin hatte freimütig alles zu Papier gebracht, da ihr Werk nicht für Dritte bestimmt gewesen war; zweifellos hatte sie jede nur mögliche Informationsquelle angezapft, ehe sie eine Frau konsultierte, von der sie wusste, dass sie sie verachtete und ihr misstraute.
»Keiner hat gelacht«, murmelte Nefret. Das klang wenig überzeugend und eher wie eine halbherzige Entschuldigung, doch die andere Frau nickte verständnisvoll. Auch sie errötete – und das wundert mich nicht, dachte Nefret. Ich weiß, wie ich mich fühlen würde, wenn ich meine intimsten Gedanken zu Papier gebracht hätte und jemand anders sie lesen würde.
»Ich könnte Ihnen nicht einmal böse sein, wenn Sie gelacht hätten«, murmelte Miss Minton. »Ich habe es für mich geschrieben, wissen Sie – kurz darauf –, als ich mich noch genau an die Einzelheiten erinnerte. Ich hatte nie vor, es Dritten zu offenbaren.«
»Wie kamen Sie dazu, es Mutter zu zeigen?«
»Aus Verzweiflung«, erwiderte die andere Frau schlicht. »Ich nehme nicht an, dass Sie das verstehen können. Sie sind glücklich verheiratet mit einem Mann, wie man ihn sich nur wünschen kann, und gehören einer eng verbundenen, außergewöhnlich exzentrischen Familie an. Ich hatte keinen Geliebten, keine Familie, keine Freunde. Die Konkurrenz in meinem Gewerbe ist hart; ich dachte immer, ich hätte keine Zeit für solche Ablenkungen. Ich war reif genug, um gepflückt zu werden, und er …« Ihre vollen Lippen verzogen sich zu einem spontanen Grinsen. »Meine Liebe, er war großartig. Alles war so überaus harmonisch! Oh, ich wusste, dass er mir etwas vorspielte, aber das war mir egal. Irgendetwas sagte mir, dass, wenn ich nicht herausfände, wer und wie er wirklich war, ich für den Rest meines Lebens andere Männer mit diesem unsäglich romantischen Bild vergleichen und verwerfen würde – und wider besseres Wissen hoffte ich, ihn irgendwann wiederzusehen. Nun, das ist kein praktikabler Denkansatz für eine Frau meines Alters.«
Ihr Grinsen und die Selbstironie, die in ihren Augen aufblitzte, stießen Nefret ab. Sie war beileibe nicht bereit, sich ihr anzuvertrauen.
»Es tut mir
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