Amelia Peabody 13: Der Herr der Schweigenden
respektiere die Urteilsfähigkeit meines Sohnes, aber manchmal irrt er. Offen gestanden vermochte ich mir keinen einleuchtenden Grund vorzustellen, warum irgendjemand – sei er nun Beduine, Senussi, Türke oder Grabräuber – zuerst einen Felsbrocken und dann einen Menschen auf Ramses katapultieren sollte. Das konnte beileibe nicht mit dem verschollenen Grab zu tun haben. Es musste ein Unfall gewesen sein. Und deshalb war Mr Barton nach wie vor verdächtig.
Ich richtete mein Augenmerk auf Mr MacKay, der mit Cyrus über das Tal der Könige plauderte.
Er war weitaus länger in Ägypten als Barton und galt als Kenner des Tals. Wenn sich das Grab dort befand, dann war es mehr als wahrscheinlich, dass er es entdeckt hatte. Alle weiteren von mir erwähnten Überlegungen trafen gleichermaßen auf ihn zu. Ich hätte nichts Negatives über ihn zu sagen vermocht – in der Tat genoss er einen hervorragenden Ruf –, aber selbst der ehrlichste Wissenschaftler könnte sich von einer Entdeckung verführen lassen, die so lukrativ wie diese zu sein schien.
William Amherst – der zurückhaltende, unauffällige William – hatte sich in Kairo aufgehalten, als die Angriffe auf uns stattfanden. Sicherlich war er zum Zeitpunkt der Anschläge auf Sethos und Ramses nicht in Luxor gewesen. Das Gegenteil traf auf die anderen zu … oder doch nicht? Ich würde es herausfinden müssen. Eine weitere Möglichkeit war, dass zwei Personen daran beteiligt waren, eine in Luxor, die andere in Kairo. Je länger ich darüber nachdachte, umso wahrscheinlicher schien es. William hatte uns wegen einer Anstellung aufgesucht, nachdem Ramses nach Luxor aufgebrochen war. Er lebte seit vielen Jahren in Ägypten und hatte mit Cyrus im Tal und an anderen Plätzen gearbeitet. Seine Karriere war nicht besonders erfolgreich verlaufen; sein Selbstvertrauen hatte gelitten und seine finanziellen Mittel waren begrenzt. Er hatte eingeräumt, im vergangenen Jahr unter anderem auch in Luxor gewesen zu sein. Diente sein scheinbar freimütiges Eingeständnis eines moralischen Zusammenbruchs nur dem hinterhältigen Versuch, seine wahren Aktivitäten zu verschleiern?
William schien sich unbehaglich zu fühlen und maß mich leicht nervös, deshalb wandte ich mich zu Bertie, der zu meiner Linken saß, und fragte ihn, wie er mit seinen Studien vorankäme. Die Unterhaltung hatte sich ohnehin der Archäologie zugewandt; die arme Katherine war die Einzige unter den Anwesenden, die dieses Thema nicht sonderlich bewegte, dennoch ertrug sie solche Diskussionen mit höflichem Interesse und bemühte sich, Bertie zu motivieren. Ich schaltete mich gelegentlich ein, aber glauben Sie nicht, werte Leser, dass ich mein Ziel auch nur eine Sekunde lang aus den Augen ließ. Logische Schlussfolgerungen konnten uns unterstützen, die Identität unseres unbekannten Widersachers aufzudecken, gleichwohl würden wir uns Zeit und Mühen sparen, wenn wir ihn provozieren könnten, auf uns zuzukommen. Ich sann gerade über Möglichkeiten nach, als eine Frage von Mr MacKay mir die Chance bot. Es war lediglich die höfliche Anfrage, wie lange wir in Luxor zu bleiben gedachten, aber ich reagierte spontan, worauf Emerson mit offenem Mund zuhörte.
»Wir denken ernsthaft darüber nach, den Rest der Wintersaison in Luxor zu verbringen. Wir haben bereits die Aufgabe vollendet, mit der Herr Junker uns freundlicherweise betraute, also bleibt uns in Gizeh nichts mehr zu tun, und Emerson glaubt, dass eine detailgenaue Vermessung der Grabungsstätten in Luxor überaus sinnvoll wäre.«
Emerson schloss seinen Mund mit einem hörbaren Klicken seiner Zähne, Cyrus stimmte begeistert zu und Mr MacKay runzelte die Stirn. »Nicht dass Sie nicht Ihr Bestes getan hätten«, fügte ich gönnerhaft hinzu. »Aber für einen Einzelnen ist die Aufgabenstellung viel zu umfassend.«
Die gerunzelte Stirn des jungen Mannes glättete sich. »Offen gestanden, Mrs Emerson, würde mich das sehr erleichtern. Ich bin schon seit einiger Zeit hin- und hergerissen zwischen meiner Berufsehre und der Pflichterfüllung für mein Vaterland. Wären Sie und Ihre Familie hier, könnte ich reinen Gewissens abreisen.«
Er klang aufrichtig. War er es?
Ramses hatte nur sehr wenig gesagt. Aufgrund des forschenden Blicks, mit dem er MacKay maß, schloss ich, dass seine Gedanken in dieselbe Richtung zielten wie meine.
MacKay und Barton blieben nicht zum Kaffee und beide lehnten einen Digestif ab. Ihr Arbeitstag begann bei Sonnenaufgang. Bald
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