Amelia Peabody 13: Der Herr der Schweigenden
menschenleer. Die tatkräftigeren Touristen waren dem Weg über den Gebel nach Deir el-Bahari gefolgt, wo sie in Cook’s Rasthaus zu Mittag aßen, die anderen waren zu den Eseln und Kutschen zurückgekehrt, die sie zum Fluss und in ihre Hotels bringen würden. Sie passierten den Eingang zum Grabmal der Söhne von Ramses II. – die letzte Exkavation, die sie im Tal durchgeführt hatten, ehe Emersons aufbrausendes Temperament dafür sorgte, dass Maspero sie aus diesem Gebiet verbannte.
»Es ist ein Jammer, dass wir keine Chance hatten, Nummer fünf zu beenden«, murmelte Ramses.
»Dann wären wir heute noch damit beschäftigt.« Nefret blieb stehen und sah zu ihm auf. »Ramses …«
»Ja?«
»Ich habe in seiner Gegenwart nicht die Geduld verloren.« Sie klang wie ein kleines Mädchen, das fürchtet, sich falsch verhalten zu haben. »Ich wollte, aber ich habe mich beherrscht. Es ist nur, dass ich dich so unendlich liebe.«
»Du warst großartig.«
»Ja, das war ich, nicht wahr?« Sie legte ihre Hände auf seine Schultern und schmiegte sich an ihn. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, ihre Augen so blau wie Kornblumen.
Einige verspätete Touristen hasteten vorüber; sie beschwerten sich mit schriller Stimme über die Hitze und den Staub.
»Komm.« Ramses fasste ihre Hand.
»Wohin gehen wir?«
»Zurück auf die Amelia. Ich habe dir eine Prügelei versprochen, schon vergessen?«
Und diese nahm den Rest des Tages in Anspruch.
Jamil tauchte früh am nächsten Morgen auf, schmollend wie Sennia in einer ihrer Launen. Der Anlass für seine üble Stimmung war bei ihm. Sie ritt im Damensattel, ihre hochgeschobenen Röcke gaben den Blick auf hübsch geformte Waden und kleine Füße frei. Das einzig Widersinnige an ihr war ihre Kopfbedeckung. Irgendwie war es ihr gelungen, einen Tropenhelm aufzutreiben. Er war zwar alt, für einen viel größeren Kopf bestimmt und rutschte ihr ständig über die Augen, aber sorgfältig gesäubert und mit Stoffbahnen versehen.
»Guten Morgen!«, rief sie. »Wie geht es euch? Es ist ein schöner Tag. Wir werden viel Spaß haben. Ich habe mein Notizbuch und einen Bleistift mitgebracht.«
Sie führte ihre Englischkenntnisse und ihren Bruder vor, der sie verdrossen musterte. Nefret grinste. Jamil vermochte sich in dieser Sprache kaum zu artikulieren, und sie bezweifelte, dass er lesen und schreiben konnte. Ansonsten hätte er, beziehungsweise sein Vater, dies gewiss erwähnt. Es war nicht das Trachten nach Vorteilen; die meisten Familienmitglieder strebten eine Schulbildung an – für die Jungen –, und Selim und David waren immer auf der Suche nach viel versprechenden Jugendlichen.
Viel versprechenden Jungen. Es wäre eine wohlverdiente Strafe für sie, wenn sich herausstellte, dass dieses Mädchen die Voraussetzungen für den Beruf der Archäologin mitbrachte. Alle Männer waren blind, selbst die besten; Ramses’ wohlwollende Miene dokumentierte, dass er dem Mädchen am liebsten den Kopf getätschelt und ihr ein Bonbon gegeben hätte. Nefret wurde das Gefühl nicht los, dass Jumana auch ihn vorführen würde, und sie entschied, dass sie sie nach Kräften unterstützen wollte.
Die drei ritten nebeneinanderher, während Jamil ihnen mit dem Proviantkorb und den Wasserflaschen folgte. Jumana schwatzte ununterbrochen, sie erzählte ihnen von ihrem Vater, ihrem Bruder, diversen Cousins, der Schule und ihren Unterrichtsfächern, und sie hätte kein Ende gefunden, wenn Nefret ihr nicht irgendwann ins Wort gefallen wäre. »Das Erste, was du lernen musst«, erklärte sie, »ist zu schweigen, es sei denn, du hast eine Frage. Das ist deine Chance, von einem Mann zu lernen, der mehr über die Ägyptologie weiß als alle deine Lehrer.«
Ramses, der dem Geschnatter des Mädchens nachsichtig gelauscht hatte, bedachte Nefret mit einem schiefen Grinsen. Nefret runzelte die Stirn. Er konnte herrisch sein, ja sogar unhöflich, im Umgang mit seinen Berufskollegen und den Männern, die für ihn arbeiteten, aber genau wie sein Vater war er einfach zu verflucht freundlich bei Frauen.
Die morgendliche Luft war kühl und schneidend. Sie folgten der Straße durch die Felder in die sich daran anschließende Wüste. Die Gruppe vom New Yorker Metropolitan Museum arbeitete in einem Gebiet zwischen dem Kulturland und dem berühmten Tempel der Hatschepsut in Deir el-Bahari, wo das hohe Wüstenplateau terrassenförmig abfällt. Auf der höchsten und beeindruckendsten hatte die Pharaonin Hatschepsut ihren
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