Amelia Peabody 14: Die goldene Göttin
anzuschauen.
Ich bewegte mich weder besonders leise noch auf Zehenspitzen, trotzdem bemerkten sie mich erst, als sie mich sahen. »Verflucht!« Ramses ließ sie los und wurde ziemlich rot. »Äh – entschuldige bitte, Mutter.«
»Ich sollte mich entschuldigen, meine Lieben. Ich wusste nicht, dass ihr hier seid. Es ist fast Mittag.«
»Ich werde Vater holen.« Ramses verschwand blitzartig. Nefret, bemüht, ihr gelöstes Haar zu einem Knoten aufzustecken, lachte ihr melodisches Lachen. »Hattest du Angst, wir wären gegangen, um uns unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu streiten?«
»Eigentlich nicht. Schätze, ihr habt diese hübschen Häupter der Hathor bewundert. Ich glaube, ich habe gehört, wie Ramses eines ihrer reizenden Epitheta wiederholt hat – ›goldene Göttin‹.«
»Wenn du es schon mit angehört hast«, sagte Nefret, belustigt und kein bisschen verstimmt, »dann sollst du auch wissen, dass er damit mich gemeint hat.«
»Sehr treffend«, bekräftigte ich. Ein Sonnenstrahl schimmerte auf ihren rotgoldenen Locken. »Hathor war die Göttin der Liebe und Schönheit und – äh –«
»Des Glücks.« Sie spähte zu dem in Stein gemeißelten Antlitz. Der eine oder andere mochte es nicht unbedingt für den Inbegriff der Schönheit halten, denn die Ohren waren die einer Kuh, eines der geweihten Tiere der Göttin. Nachdem wir so viele Jahre mit altägyptischen Kunstschätzen zugebracht hatten, schienen uns solche Elemente indes ganz natürlich, und alles andere war sehr detailgetreu nachempfunden – wie beispielsweise das lange Haar, das ihr lockig über die Schultern fiel. » Wir preisen die Goldene Göttin, Dame der Türkise, Gebieterin des Westens «, rezitierte Nefret. Sie verneigte sich feierlich und würdevoll.
Ich konnte meine Zunge nicht im Zaum halten. »Worum bittest du sie?«
»Um Glück«, wiederholte Nefret.
»Dann – ist alles in Ordnung, oder? Zwischen euch beiden?«
»Natürlich.« Sie fasste meinen Arm. »Lass uns was essen.«
Emerson hielt uns dermaßen auf Trab, dass ich erst im Verlauf der Woche meine alljährliche Wallfahrt zu Abdullahs Grab machen konnte. Der Besuch war mir nie sonderlich wichtig gewesen, weil ich nicht den Toten in ihm sah. Ich ging nur hin, weil … Kurzum, ich weiß es selber nicht. La coeur a ses raisons que la raison ne connaît point.
Diesmal konzentrierte sich mein Hauptanliegen darauf, mir sein neues Grabmal anzuschauen. Ich hatte es noch nie gesehen, da Abdullah erst im letzten Frühjahr, kurz vor unserer Abreise aus Ägypten, damit herausgerückt war. Sein Wunsch hatte mich überrascht; man sollte doch nicht vermuten, dass ein unsterblicher Geist – oder, um Emerson zu zitieren, »eine sentimentale Fantasie meines schlummernden Hirns« – solche Dinge aufgreift. Jedenfalls hatte Emerson keine Einwände, worauf ich Davids Skizzen und Pläne an Selim schickte, mit der Bitte, sich der Sache anzunehmen.
Ich wollte allein hingehen, doch Ramses ertappte mich dabei, wie ich mich aus dem Haus stahl, und baute sich vor mir auf.
»Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, dass keiner von uns allein ausgeht, Mutter.«
»Ich versichere dir, wenn ich Jamil sehe, mit der Doppelkrone auf dem Kopf und Kusshändchen werfend, werde ich ihm nicht folgen.«
Ramses fand das weder lustig noch überzeugend. »Wohin willst du?«
»Nur zum Friedhof. Ich habe Abdullahs Grabmal noch nicht gesehen.«
»Oh. Ich auch nicht. Darf ich dich begleiten?«
Zwecklos, ihn abzuwimmeln, also stimmte ich zu. Offen gestanden war er der Einzige, gegen dessen Gesellschaft ich nichts einzuwenden hatte. Er hatte mich am Tag nach Abdullahs Bestattung begleitet und mir geholfen, die kleinen Amulette von Horus und Sechmet, Anubis und Sobek dort zu vergraben – Symbole der alten Gottheiten, die die Seele auf der Straße nach Westen beschützen –, in sträflicher Missachtung von Abdullahs Glaubensansichten und meinen. Gleichwohl hatte ich stets den Verdacht, dass Abdullah heimlich und halb verschämt an die alten Götter glaubte. Ramses’ schweigendes Einverständnis spendete mir Trost, den ich an jenem Tag bitter nötig hatte.
Wir gingen zu Fuß, über die felsigen Erhebungen und das Geröll der Wüstenebene, und Ramses passte seine langen Schritte meinem Tempo an. Der Friedhof war auf der Nordseite des Dorfes, unweit der Moschee. Ringsum Wüstenlandschaft, glutheißer Sand und steiniger Boden, kein Baum, keine blühende Pflanze milderten die Tristesse der einsamen Gräber. Die
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