Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
nicht ausstehen, wenn sie ihre ganz eigene Meinung als die eines Toten ausgeben will.«
»Es überrascht mich, dass du so dogmatisch bist, Radcliffe«, erwiderte Sethos. »Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden …«
»Pah«, schnaubte Emerson. »Und nenn mich nicht Radcliffe.«
Sethos’ Lippen zuckten. »Ich werde mich bemühen. Überdies gehe ich davon aus, dass Amelia ihren Entschluss genau wie ich nach rationalen Erwägungen gefasst hat. Ich denke immerfort an Ramses’ merkwürdiges Erlebnis. Es beunruhigt mich.«
»Du hast einen eher ungläubigen Eindruck vermittelt – belustigt, aber nicht beunruhigt«, kritisierte Emerson stirnrunzelnd.
»Ich musste den Jungen ein bisschen aufziehen. Er nimmt das Leben so ernst! Es ist durchaus nachvollziehbar, dass irgendeine ›Dame‹ eine Schwäche für Ramses hat und zu unorthodoxen Methoden greift, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. Wie diverse andere Familienmitglieder – aus Bescheidenheit und Rücksichtnahme auf die Befindlichkeiten meines werten Bruders werde ich diese nicht nennen – scheint er ausgesprochen anziehend auf Frauen zu wirken.«
»Blödes Geschwätz!«, erboste sich Emerson. Sethos zuckte mit den Schultern und wurde ernst.
»Die Alternative ist weit weniger harmlos. Euer Sohn hat in den vergangenen Jahren nicht tatenlos herumgesessen; er hat fast genauso viele Menschen provoziert wie ich – die Türken, die Senussi, die Nationalisten, ja sogar ein paar von unseren eigenen Geheimdienstleuten. David ist auch kein unbeschriebenes Blatt; bei der Polizei ist er als Mitglied einer nationalistischen Gruppierung bekannt.
Zivile Unruhen können jederzeit wieder ausbrechen, und in einem solchen Fall wäre er einer der ersten Verdächtigen.«
»Bestimmt nicht!«, entrüstete ich mich. »Seine Dienste für England während des Krieges …«
»Setzen ihn zusätzlichen Risiken aus. Davids Aktivitä ten sind hochrangigen Mitarbeitern des Geheimdienstes bekannt, und es würde mich nicht wundern, wenn sie ihn erneut einzuspannen suchten. Einige Mitglieder seiner früheren Organisation sehen in ihm einen Verräter an der Sache. Was meint ihr, war es reiner Zufall, dass Ramses einen Tag vor Davids Ankunft in Ägypten entführt wurde?«
»Eine Verwechslung kann es nicht gewesen sein«, protestierte Emerson.
»Wie gesagt, ich habe keine Erklärung dafür. Vielleicht besteht auch gar kein Zusammenhang. Auf alle Fälle sind die Jungen in Luxor sicherer.«
Emerson kratzte sich sein Kinngrübchen und musterte neiderfüllt den Bart seines Bruders. Er nahm es mir immer noch übel, dass ich ihm keinen erlaubte. »Ich will es hoffen«, knurrte er. »Sonst …«
»Ich komme in ein paar Tagen nach«, fiel Sethos ihm ins Wort.
»Versprochen?«, bohrte ich.
»Versprochen. Widrige Umstände vorbehalten.«
»Was willst du damit …«
»Gute Nacht, Amelia. Gute Nacht, Bruderherz.«
Ich hatte meinen Entschluss in der Tat nach rein rationalen Erwägungen getroffen – denn dazu zähle ich auch die unterschwelligen Impulse, die gewisse Personen (ich nenne keine Namen) als Intuition abtun. Meine gelegentlichen Träume von Abdullah, der sein Leben für mich hergegeben hatte, könnten als Signale des Unterbewusstseins gesehen werden; allerdings waren es sonderbare Träume, so real und plausibel wie mit einem lebenden Freund. Ich hatte eine ganze Weile nicht mehr von ihm geträumt, tat es jedoch in jener Nacht.
Wir trafen uns immer an derselben Stelle – oberhalb von Deir el-Bahari, auf dem Pfad, der ins Tal der Könige führt – und zur selben Zeit – bei Tagesanbruch, wenn die aufgehende Sonne die Dunkelheit verscheucht und das Tal mit Licht erfüllt.
Er hatte sich seither nie verändert (kaum verwunderlich!). Groß und stattlich, sein Bart schwarz wie der eines Mannes in der Blüte seiner Jahre, begrüßte er mich, als hätten wir uns noch kürzlich gesehen.
»Du musst umgehend nach Luxor aufbrechen.«
»Das habe ich auch vor«, erwiderte ich leicht gereizt. »Vermutlich verlange ich dir zu viel ab, wenn ich dich um eine nähere Erklärung bitte. Dafür genießt du deine orakelhaften Andeutungen einfach zu sehr.«
»Weil«, hob Abdullah an, »es Probleme gibt.«
»Das weiß ich auch selber.«
Abdullah winkte ungehalten ab. »Nicht der Diebstahl von Effendi Vandergelts Kunstschätzen. Das ist das Wenigste. Gib auf die Kinder Acht!«
Ich umklammerte seinen Arm. »Herrgott, Abdullah, sei doch nicht so ein Geheimniskrämer. Wenn die Kinder in Gefahr
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