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American Gods

American Gods

Titel: American Gods Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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und Verletzte«. Mit individuellen Geschichten werden aus der Statistik Menschen – doch selbst das ist eine Lüge, leiden die Menschen doch nach wie vor in Größenordnungen, die per se abstumpfend und bedeutungslos sind. Schaut hin , seht euch den furchtbar aufgeschwollenen Bauch dieses kleinen Jungen an, seht die Fliegen, die in seinen Augenwinkeln krabbeln, seht seine skelettartigen Glieder: Macht das es euch leichter, seinen Namen zu kennen, sein Alter, seine Träume, seine Ängste? Ihn von innen zu sehen? Und wenn ja, erweisen wir nicht damit seiner Schwester einen schlechten Dienst, die neben ihm im versengenden Staub liegt, die entstellte, aufgeblähte Karikatur eines Menschenkindes? Und dann, wenn wir mit ihnen fühlen, sind sie uns da wichtiger als die tausend anderen Kinder, die von derselben Hungersnot betroffen sind, tausend andere Menschenleben, die schon bald Myriaden von Fliegenkindern als Futter dienen werden?
    Wir zäunen diese Momente des Schmerzes ein und verbleiben auf unseren Inseln, sodass die Schmerzen uns nichts anhaben können. Sie sind von einer weichen, stabilen, perlmuttartigen Schicht bedeckt, die sie, wie eine Perle, schmerzlos aus unserer Seele gleiten lässt.
    Die fiktionale Erzählung erlaubt uns, in diese anderen Köpfe, diese anderen Orte, zu gleiten und durch andere Augen nach draußen zu sehen. Und in der Erzählung halten wir ein, bevor wir sterben, oder wir sterben stellvertretend, unversehrt, und in der Welt jenseits der Erzählung blättern wir die Seite um oder schlagen das Buch zu und kehren zu unserem eigentlichen Leben zurück.
    Ein Leben, das, wie jedes andere, keinem anderen gleicht.
    Aber die schlichte Wahrheit ist diese: Es war einmal ein Mädchen, das wurde von seinem Onkel verkauft.
    Das ist es, was man dort zu sagen pflegte, wo das Mädchen herkam: Es mag niemand genau wissen, wer der Vater des Kindes war, aber die Mutter, ah, da kann man sich sicher sein. Abstammung und Besitz waren etwas, das auf matrilinearen Bahnen verlief, die Macht aber blieb in den Händen der Männer: Ein Mann besaß alle Besitzrechte an den Kindern seiner Schwester.
    Es herrschte Krieg in jener Gegend, ein kleiner Krieg nur, nicht mehr als ein Handgemenge zwischen den Männern zweier rivalisierender Dörfer. Es war schon eher nur ein Streit. Das eine Dorf ging als Sieger aus dem Streit hervor, das andere als Verlierer.
    Leben als Ware, Menschen als Besitztümer. Sklaverei war hier seit tausenden von Jahren Bestandteil der Kultur gewesen. Die arabischen Sklavenhändler hatten die letzten der großen Königreiche Ostafrikas zerstört, während die westafrikanischen Völker sich gegenseitig zerstörten.
    Es war nichts Ungewöhnliches oder gar Anstößiges daran, dass der Onkel die Zwillinge verkaufte, obwohl Zwillinge als magische Wesen erachtet wurden, und tatsächlich fürchtete sich der Onkel vor ihnen, fürchtete sie so sehr, dass er seine Absicht, sie zu verkaufen, vor ihnen verheimlichte, damit sie nicht seinen Schatten schädigen konnten, um ihn damit zu töten. Sie waren zwölf Jahre alt. Das Mädchen hieß Wututu, der Botenvogel, und der Junge hieß Agasu, welches der Name eines toten Königs war. Es waren gesunde Kinder, und da sie Zwillinge waren, männlich und weiblich, erzählte man ihnen viele Dinge über die Götter, und da sie Zwillinge waren, achteten sie auf die Dinge, die man ihnen erzählte, und behielten sie in Erinnerung.
    Ihr Onkel war ein fetter und fauler Mensch. Hätte er mehr Vieh besessen, hätte er vielleicht statt der Kinder eines seiner Rinder abgegeben. So aber verkaufte er die Zwillinge. Genug von ihm: Er soll keine weitere Rolle in dieser Erzählung spielen. Wir folgen den Zwillingen.
    Sie mussten, zusammen mit mehreren anderen Sklaven, die in dem Krieg gefangen oder verkauft worden waren, ein Dutzend Meilen weit zu einem kleinen Außenposten marschieren. Hier fand ein Markt statt, wo die Zwillinge gemeinsam mit dreizehn anderen Gefangenen von sechs Männern mit Speeren und Messern gekauft wurden, die sie gleich nach Westen zum Meer führten und dann über viele Meilen an der Küste entlang. Es waren nun insgesamt fünfzehn Sklaven, die Hände locker gefesselt, untereinander an den Hälsen festgebunden.
    Wututu fragte ihren Bruder Agasu, was wohl mit ihnen geschehen werde.
    »Ich weiß nicht«, sagte er. Agasu war ein Junge, der gern und oft lächelte: Er besaß ein weißes, tadelloses Gebiss, das er beim Grinsen stets entblößte, und sein glückliches

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