American Gods
die sie umgibt.
Wenn jemand sie direkt ansieht, bewegen sich ihre Lippen, als ob sie Selbstgespräche führt. Wenn Männer in ihren Autos an ihr vorbeifahren, stellt sie Augenkontakt her und lächelt.
Es war eine lange Nacht.
Es war eine lange Woche.
Und lange viertausend Jahre.
Sie ist stolz darauf, niemandem etwas schuldig zu sein. Die anderen Mädchen auf der Straße, die haben Zuhälter, sie haben Drogenprobleme, haben Kinder – immer ist jemand da, der ihnen das nimmt, was sie mühsam verdienen. Aber nicht bei ihr.
Da ist nichts Heiliges mehr in ihrem Beruf. Das ist vorbei.
Vor einer Woche haben in Los Angeles die Regenfälle begonnen, haben die Straßen glatt und unfallträchtig gemacht, haben den Lehm von den Hängen bröckeln und Häuser in die Canyons rutschen lassen, haben die Welt in die Gullys und Abflüsse gespült, haben die Penner und Obdachlosen ertränkt, die im Betonkanal des Flusses kampierten. Wenn der Regen nach Los Angeles kommt, trifft er die Menschen stets unvorbereitet.
Bilquis hat die vergangene Woche zu Hause verbracht. Da sie sich nicht an die Straße stellen konnte, hat sie sich’s auf ihrem Bett gemütlich gemacht, in dem Zimmer, dessen Farbe an rohe Leber erinnert, hat dem Regen gelauscht, der auf den Metallkasten der Fensterklimaanlage prasselte, und Anzeigen im Internet geschaltet. Sie hat ihre Einladungen bei adultfriendfinder.com, Classyhollywoodbabes.com und LA-escorts.com hinterlassen, hat sich eine anonyme E-mail-Adresse angeschafft. Sie war richtig stolz, sich auf unvertrautem Boden so gut zurechtgefunden zu haben, aber sie ist trotzdem etwas nervös – so lange Zeit hat sie alles vermieden, was einer Papierfährte ähneln könnte. Nicht einmal eine kleine Anzeige auf den einschlägigen Seiten der L. A. Weekly hat sie je aufgegeben, weil sie es vorzog, sich ihre Kunden selbst auszusuchen, über Aussehen, Geruch und Berührung diejenigen zu ermitteln, die ihr die Anbetung entgegenbringen würden, die sie braucht, diejenigen, die ihr erlauben würden, den ganzen Weg der Lust zu gehen …
Und jetzt, wo sie an der Straßenecke steht und zittert (zwar haben die späten Februarregenfälle nachgelassen, die Kälte aber, die sie mitbrachten, ist geblieben), geht ihr auf, dass sie genauso abhängig ist wie die Heroin- und Crackhuren; das bedrückt sie, und ihre Lippen setzen sich wieder in Bewegung. Wäre man ihren rubinroten Lippen nahe genug, könnte man sie sagen hören:
»Ich will aufstehen und in der Stadt umgehen auf den Gassen und Straßen und suchen, den meine Seele liebet.« Sie flüstert dies, und sie flüstert auch: »Ich suchte des Nachts in meinem Bette, den meine Seele liebet. Er küsse mich mit dem Kuss seines Mundes. Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein.«
Bilquis hofft, dass mit dem Nachlassen des Regens die Freier zurückkehren werden. Die meiste Zeit des Jahres schreitet sie dieselben zwei, drei Straßenblocks am Sunset ab und genießt die kühlen Nächte von L. A. Einmal im Monat schmiert sie den Beamten vom LAPD, der den Typen ersetzt hat, den sie vorher geschmiert hat, der aber plötzlich verschwunden war. Sein Name war Jerry LeBec, und sein Verschwinden hatte das LAPD vor ein Rätsel gestellt. Er war besessen von Bilquis geworden, hatte sich angewöhnt, ihr zu Fuß zu folgen. Von einem Geräusch aufgeschreckt, erwachte sie eines Nachmittags, öffnete die Wohnungstür und sah Jerry LeBec vor sich, der in Zivilkleidung auf dem zerschlissenen Teppich kniete und sich mit gebeugtem Kopf vor und zurück wiegte, während er wohl darauf gewartet hatte, dass sie die Tür öffnete. Das Geräusch, das sie gehört hatte, war der Kopf gewesen, der jedesmal gegen die Tür stieß, wenn LeBec auf den Knien hin und her schwankte.
Sie strich ihm übers Haar und bat ihn herein, und später packte sie seine Sachen in eine schwarze Plastikmülltüte, die sie hinter einem Hotel ein paar Straßen weiter in einen Abfallcontainer warf. Seine Pistole und die Brieftasche steckte sie in eine Einkaufstüte. Sie schüttete Kaffeesatz und Essensreste hinterher, faltete die Tüte zusammen und warf sie an einer Bushaltestelle in den Papierkorb.
Sie behielt keine Souvenirs.
Ferne Blitze lassen im Westen, irgendwo über dem Meer, den orangefarbenen Nachthimmel aufleuchten, und Bilquis weiß, was das bedeutet. Sie seufzt. Sie möchte sich nicht vom Regen überraschen lassen. Sie wird in ihre Wohnung zurückkehren, beschließt sie, und ein Bad nehmen, sich die Beine rasieren –
Weitere Kostenlose Bücher