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American Gods

American Gods

Titel: American Gods Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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entweder wir oder sie.«
    »Ja«, sagte Easter. »Vermutlich.«
    Das Mädchen lächelte wieder aus dem Halblicht und begab sich dann zurück ins Lager. Easter legte die Hand auf einen grünen Trieb, der wie eine Messerklinge aus der Erde ragte. Bei ihrer Berührung begann er zu wachsen, öffnete, wand und wandelte sich, bis ihre Hand auf einem grünen Tulpenkopf ruhte. Sobald die Sonne hoch am Himmel stand, würde er sich öffnen.
    Easter blickte zu dem Falken hinauf. »Kann ich dir behilflich sein?«
    Der Falke kreiste ganz gemächlich etwa fünf Meter über Easter, dann glitt er nach unten und landete in ihrer Nähe. Er sah sie mit irrem Blick an.
    »Hallo, Süßer«, sagte sie. »Na, wie siehst du denn in Wirklichkeit aus?«
    Der Falke hüpfte unsicher auf sie zu, und auf einmal war es kein Falke mehr, sondern ein junger Mann. Er sah sie an, und dann blickte er hinunter ins Gras. »Du?«, sagte er. Sein Blick schweifte überallhin, zum Gras, zum Himmel, zu den Büschen. Aber nicht zu ihr.
    »Ich«, sagte sie. »Was ist mit mir?«
    »Du.« Er brach ab. Anscheinend versuchte er seine Gedanken zu ordnen; ein seltsames Mienenspiel huschte und schwamm über sein Gesicht. Er ist zu lange Vogel gewesen, dachte sie. Er hat vergessen, wie es als Mensch ist. Sie wartete geduldig. Schließlich sagte er: »Kommst du mit mir?«
    »Kann sein. Wohin soll’s denn gehen?«
    »Der Mann am Baum. Er braucht dich. Eine Geisterwunde in der Seite. Das Blut kam, dann hörte es auf. Ich glaube, er ist tot.«
    »Hier herrscht Krieg. Ich kann jetzt nicht einfach davonlaufen.«
    Der nackte Mann schwieg und trat einfach nur von einem Fuß auf den anderen, als wäre er sich seines Gewichts nicht sicher, als wäre er zwar gewohnt, sich in der Luft oder auf einem schwankenden Ast aufzuhalten, nicht aber auf festem Boden. Schließlich sagte er: »Wenn er für immer weg ist, ist alles vorbei.«
    »Aber die Schlacht …«
    »Wenn er verloren ist, wird es einerlei sein, wer gewinnt.« Er sah aus, als würde er eine wärmende Decke brauchen, dazu eine Tasse süßen Kaffee und jemanden, der ihn irgendwohin brachte, wo er in Ruhe zittern und stammeln konnte, bis sein Verstand sich wieder einschaltete. Er hielt die Arme steif an den Körper gepresst.
    »Wo ist es denn? In der Nähe?«
    Er starrte auf die Tulpenpflanze und schüttelte den Kopf. »Weit weg.«
    »Tja«, sagte sie. »Ich werde hier gebraucht, da kann ich nicht einfach weggehen. Und wie soll ich überhaupt da hinkommen? Ich kann doch nicht so wie du fliegen.«
    »Ja«, sagte Horus. »Du nicht.« Dann blickte er feierlich nach oben und zeigte auf den anderen Punkt, der über ihnen kreiste und jetzt, immer größer werdend, aus den sich verdunkelnden Wolken nach unten fiel. »Aber er kann.«
     
    Weitere Stunden sinnloser Fahrerei vergingen, und inzwischen hasste Town das Navigationssystem fast so sehr wie Shadow. Es lag allerdings wenig Leidenschaft in diesem Hass. Den Hinweg zu finden, den Weg zur Farm, zur großen Silberesche, das war seinem Empfinden nach schon verflucht schwer gewesen – jetzt aber erwies es sich, dass es noch viel schwerer war, den Rückweg zu finden, den Weg von der Farm weg . Offenbar war es ganz gleichgültig, welche Straße er wählte, in welche Richtung er die schmalen Feldwege befuhr – diese kurvenreichen Nebenstrecken von Virginia, die, da war er sich sicher, mal als Wildwechsel und Kuhwege angefangen hatten –, irgendwann kam er dann doch plötzlich wieder an der Farm, an dem handgemalten Schild ASH , vorbei.
    Das war doch verrückt, oder? Er musste einfach nur den Weg zurückverfolgen, musste jedesmal links abbiegen, wo er auf dem Hinweg rechts gefahren war, und umgekehrt.
    Nur, genau das hatte er beim letzten Mal getan, und jetzt stand er wieder hier gleich neben der Farm. Schwere Sturmwolken zogen auf, es wurde rasch dunkel, es fühlte sich an wie Abend, nicht wie Morgen, und er hatte noch eine lange Fahrt vor sich: Wenn das so weiterging, würde er niemals bis zum Nachmittag in Chattanooga eintreffen.
    Sein Handy zeigte ihm lediglich an, dass es derzeit kein Netz fand. Die Faltkarte aus dem Handschuhfach verzeichnete nur die Hauptstraßen, alle Interstates und die echten Highways, alles weitere existierte ihr zufolge gar nicht.
    Es war auch niemand zu sehen, den er hätte fragen können. Die Häuser lagen ziemlich weit von der Straße entfernt, nirgends brannten einladende Lichter. Die Nadel der Tankanzeige kratzte bereits am roten Bereich. Aus der Ferne

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