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American Gods

American Gods

Titel: American Gods Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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Zärtlichkeiten.
    In London angekommen, quartierte Kapitän Clarke Essie bei seiner Mutter ein, welche jene in jeder Hinsicht als die neue Ehefrau ihres Sohnes annahm. Acht Wochen später hisste die Neptun erneut die Segel, und die hübsche junge Braut mit dem kastanienbraunen Haar winkte ihrem Gatten vom Kai aus Lebewohl. Danach kehrte sie ins Haus ihrer Schwiegermutter zurück und bemächtigte sich in deren Abwesenheit einiger Ellen Seide, mehrerer Goldmünzen und eines Silbertopfes, in dem die alte Frau ihre Knöpfe aufbewahrte, und nachdem Essie alles eingesteckt hatte, verschwand sie in den Freudenhäusern von London.
    Im Verlauf der nächsten zwei Jahre entwickelte Essie sich zu einer versierten Ladendiebin, deren weite Röcke sie in den Stand versetzten, eine Vielzahl von Sünden, in der Hauptsache gestohlene Ballen von Seide und Spitze, zu verbergen, und sie genoss das Leben in vollen Zügen. Ihren Dank dafür, aus allen Wechselfällen des Lebens unbeschadet hervorgegangen zu sein, stattete sie jenen Geschöpfen ab, von denen ihr als Kind erzählt worden war, den Pixies etwa (deren Einfluss, davon war sie fest überzeugt, bis nach London reichte), und jede Nacht stellte sie eine Holzschüssel voll Milch auf den Fenstersims, obwohl ihre Freundinnen sie dafür auslachten; sie aber war es, die zuletzt lachte, alldieweil ihre Freundinnen die Pocken bekamen oder den Tripper, während Essie stets kerngesund blieb.
    Sie stand ein Jahr vor ihrem zwanzigsten Geburtstag, als das Schicksal ihr einen üblen Schlag versetzte: Sie saß in der Schänke »Zu den Gekreuzten Gabeln« in Bell Yard nahe der Fleet Street, als sie einen jungen Mann erblickte, der sich nach dem Eintreten in der Nähe des Kamins niederließ, offenbar frisch von der Universität gekommen. Oho! Ein leichtes Opfer, sagt sich Essie und setzt sich neben ihn, um ihm zu versichern, was für ein feiner junger Herr er sei, und dabei beginnt sie ihm mit der einen Hand das Knie zu streicheln, während die andere Hand vorsichtig auf die Suche nach seiner Taschenuhr geht. Doch dann blickte er ihr geradewegs ins Gesicht, und ihr sank das Herz, nachdem es vor Schreck zuvor einen Hupfer gemacht hatte, denn da bohrten sich Augen von dem gefährlichen Blau eines Sommerhimmels vor dem Sturm in ihr Gesicht, und Master Bartholomew redete sie mit Namen an.
    Sie wurde nach Newgate geschafft und wegen Rückkehr aus der Deportation unter Anklage gestellt. Für schuldig befunden, vermochte Essie zunächst niemanden mehr dadurch zu irritieren, dass sie ihren Bauch ins Feld führte, doch sahen sich die städtischen Oberinnen, denen die Prüfung solcher Behauptungen (welche in aller Regel gegenstandslos waren) oblag, zu ihrer großen Überraschung gezwungen, die Tatsache zu bestätigen, dass Essie ein Kind im Leibe trug; freilich, wer der Vater war, das weigerte Essie sich zu enthüllen.
    So wurde ihre Todesstrafe einmal mehr in eine Deportation umgewandelt, diesmal mit dem Urteil lebenslänglich.
    Das Schiff, auf dem sie ausfuhr, hieß Meerjungfrau . Es waren zweihundert Deportierte an Bord, in den Laderaum gepfercht wie Schweine auf dem Weg zum Markt. Ausfluss und Fieber grassierten; es gab kaum Platz sich hinzusetzen, geschweige denn sich liegend auszustrecken; eine Frau starb bei der Niederkunft im hinteren Teil des Laderaums, und da die Leute zu eng gedrängt waren, als dass man sie hätte nach vorn bringen können, zwängte man sie und das Kind hinten durch ein kleines Bullauge ohne Umschweife ins aufgewühlte graue Meer hinaus. Essie war im achten Monat, und es war ein Wunder, dass sie das Kind durchbrachte, aber so war es.
    In ihrem ganzen späteren Leben wurde sie von Albträumen über diese Zeit im Laderaum geplagt, sie wachte dann schreiend auf und hatte den Geschmack und den Gestank jenes Ortes im Hals.
    Die Meerjungfrau lief in Norfolk in Virginia ein, und Essies Kontrakt wurde von einem »kleinen Pflanzer« gekauft, einem Tabakfarmer namens John Richardson, welchem die Frau, eine Woche nachdem sie ihm eine Tochter geboren hatte, am Kindbettfieber gestorben war und der eine Amme benötigte sowie eine Dienstmagd für alle anfallenden Arbeiten auf seinem Kleinlandbesitz.
    So saugte also Essies kleiner Junge, den sie Anthony nannte – nach seinem Vater, ihrem verstorbenen Gatten, wie sie sagte (es war ja niemand da, der dies anzweifeln konnte, und vielleicht hatte sie tatsächlich einmal einen Anthony gekannt) – gemeinsam mit Phyllida Richardson an ihrer Brust, und

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