American Gods
schaukeln, wägte das Für und Wider ab, betrachtete die Dinge von allen Seiten. »Nun, ja und nein. ›Ägypter‹, da denke ich an die Leute, die heutzutage dort leben. Die ihre Städte über unseren Gräbern und Palästen errichtet haben. Sehen die etwa aus wie ich?«
Shadow zuckte die Achseln. Er hatte Schwarze gesehen, die wie Mr. Ibis aussahen. Er hatte auch schon braun gebrannte Weiße gesehen, die wie Mr. Ibis aussahen.
»Wie schmeckt Ihnen der Kuchen?«, fragte die Kellnerin, die ihnen gerade Kaffee nachschenkte.
»Der beste, den ich je hatte«, sagte Mr. Ibis. »Richten Sie Ihrer Mama meine besten Grüße aus.«
»Mache ich«, sagte sie und wieselte wieder davon.
»Als Bestattungsunternehmer erkundigt man sich grundsätzlich nicht danach, wie es den Leuten geht. Die denken sonst, man sei scharf auf Kundschaft«, sagte Mr. Ibis in gedämpftem Ton. »Wollen wir mal nachsehen, ob Ihr Zimmer bereit ist?«
Ihr Atem dampfte in der Abendluft. Die Weihnachtsbeleuchtung funkelte in den Schaufenstern, an denen sie vorbeikamen. »Sehr nett von Ihnen, dass Sie mich beherbergen wollen«, sagte Shadow. »Ich weiß es zu schätzen.«
»Wir schulden Ihrem Arbeitgeber mehr als einen Gefallen. Und wir haben weiß Gott Platz genug. Es ist ein großes altes Haus. Früher waren wir mehr Leute, wohl wahr. Jetzt sind wir aber nur noch zu dritt. Sie werden niemandem im Weg sein.«
»Haben Sie eine Ahnung, wie lange ich bei Ihnen bleiben soll?«
Mr. Ibis schüttelte den Kopf. »Das hat er nicht gesagt. Aber wir sind glücklich, Sie bei uns zu haben, und wir finden auch Arbeit für Sie. Sofern Sie nicht allzu zart besaitet sind. Und sofern Sie die Toten mit Respekt behandeln.«
»Und was hat Sie ausgerechnet hierher nach Cairo geführt?«, fragte Shadow. »Lag es nur an dem Namen oder so?«
»Nein. Überhaupt nicht. Eigentlich ist es sogar so, dass die Gegend ihren Namen von uns hat, was den Leuten allerdings kaum bekannt ist. Früher, in der alten Zeit, war hier ein Handelsposten.«
»In den alten Grenzlandzeiten?«
»So könnte man es nennen«, sagte Mr. Ibis, » ’n Abend, Miz Simmons! Auch Ihnen fröhliche Weihnachten! Die Leute, die mich mit hergebracht haben, sind vor langer Zeit den Mississippi hochgekommen.«
Shadow blieb mitten auf dem Bürgersteig stehen und sah ihn erstaunt an. »Wollen Sie mir etwa erzählen, dass die alten Ägypter schon vor fünftausend Jahren hier waren und Handel getrieben haben?«
Mr. Ibis antwortete nicht darauf, aber er schmunzelte vernehmlich. Dann sagte er: »Dreitausendfünfhundertdreißig Jahre, plus/minus.«
»Okay«, sagte Shadow. »Ich kauf’s Ihnen wahrscheinlich sogar ab. Und womit wurde gehandelt?«
»Nicht viel. Felle. Ein paar Nahrungsmittel. Kupfer aus den Minen auf der oberen Halbinsel im heutigen Michigan. Das Ganze war eher eine Enttäuschung. Hat den Aufwand nicht gelohnt. Sie blieben lange genug, um den Glauben an uns zu pflegen, uns Opfer darzubringen, und immerhin auch lange genug, dass einige der Händler am Fieber starben und hier begraben wurden, so dass wir mit ihnen zurückblieben.« Er blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich, die Arme ausgestreckt, langsam um. »Dieses Land ist seit zehntausend oder mehr Jahren ein großer Bahnhof. Jetzt werden Sie natürlich fragen, was mit Kolumbus ist, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Shadow artig. »Was ist mit ihm?«
»Kolumbus tat, was man seit Tausenden von Jahren getan hatte. Es ist nichts Ungewöhnliches, nach Amerika zu kommen. Ich habe gelegentlich Geschichten darüber geschrieben.«
Sie gingen weiter.
»Wahre Geschichten?«
»Bis zu einem gewissen Punkt, ja. Ich kann Ihnen mal ein, zwei zu lesen geben, wenn Sie möchten. Für den, der Augen hat zu sehen, liegt alles offen zu Tage. Mir persönlich – und ich spreche hier als Abonnent des Scientific American – tun die Forscher immer sehr Leid, wenn sie wieder mal einen Schädel finden, der sie in Verwirrung stürzt, irgendwas, was zum falschen Volksstamm gehört, oder wenn sie auf Statuen oder Artefakte stoßen, die sie nicht einordnen können – sie sprechen zwar über das Rätselhafte, aber sie würden nie über das Unmögliche sprechen, und da tun sie mir eben Leid, sobald nämlich etwas als unmöglich gilt, wird es nicht mehr in Betracht gezogen, gleichgültig, ob es wahr ist oder nicht. Ich mein, da gibt es mal einen Schädel, der zeigt, dass die Ainu, der japanische Ureinwohnerstamm, vor neuntausend Jahren in Amerika waren. Und dann einen, der
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