American Gods
Ausnahme, sämtlich verriegelte und verrammelte Häuser standen. »Nehmen Sie die Seitengasse«, sagte Jacquel.
Er fuhr den Leichenwagen rückwärts bis fast an die Flügeltüren auf der Hinterseite des Hauses heran. Ibis öffnete die Haustür und die Hecktür des Wagens; Shadow schnallte die Bahre los und zog sie nach draußen. Die Radstützen rotierten und klappten nach unten, nachdem sie die Stoßstange passiert hatten. Er rollte die Bahre zum Balsamiertisch. Er hob Lila Goodchild hoch, wiegte sie in ihrem undurchsichtigen Sack wie ein schlafendes Kind und legte sie vorsichtig auf den Tisch der kalten Leichenhalle, als müsste er befürchten, sie aufzuwecken.
»Ach, ich hätte eigentlich eine Schwinglade zum Hieven«, sagte Jacquel. »Sie brauchen sie nicht zu tragen.«
»Das ist doch ein Klacks«, sagte Shadow. Er klang allmählich schon fast wie Jacquel. »Groß und stark, wie ich bin, macht mir das nichts.«
Als Kind war Shadow für sein Alter eher klein gewesen, hatte nur aus Ellbogen und Knien bestanden. Das einzige Kindheitsfoto von ihm, das Laura für würdig befunden hatte, zu rahmen, zeigte einen ernsten Jungen mit dunklen Augen und widerspenstigem Haar, der neben einem mit Kuchen und Keksen beladenen Tisch steht. Das Bild mochte anlässlich einer Botschaftsweihnachtsfeier aufgenommen worden sein; er war jedenfalls in sein bestes Zeug gesteckt worden und trug eine Fliege.
Sie waren unablässig umgezogen, Shadow und seine Mutter, erst durch Europa von Botschaft zu Botschaft, wo seine Mutter als Telegrafistin im Auswärtigen Dienst gearbeitet hatte, geheime Telegramme transkribierte und durch die Welt schickte, und dann, als er acht Jahre alt war, zurück in die USA, wo seine Mutter, inzwischen zu kränklich, um sich in einer festen Position zu halten, ruhelos von einer Stadt in die nächste gezogen war, hier ein Jahr und dort ein Jahr, und sie beide, sofern es ihr gut genug ging, mit Zeitarbeitsjobs über Wasser gehalten hatte. Sie blieben niemals lange genug an einem Ort, dass Shadow Freunde finden, sich zu Hause fühlen oder seine Befangenheit abstreifen konnte. Und Shadow war, wie gesagt, ein eher schmächtiges Kind …
Er war dann unheimlich schnell gewachsen. Im Frühling seines dreizehnten Lebensjahres hatten es seine Schulkameraden noch auf ihn abgesehen, provozierten ihn zu Prügeleien, weil sie wussten, dass sie ihm überlegen waren, und danach rannte Shadow, wütend und oft auch weinend, immer auf die Jungentoilette, um sich den Dreck oder das Blut aus dem Gesicht zu waschen, bevor es jemand mitbekam. Schließlich kam der Sommer, ein langer, magischer dreizehnter Sommer, den er damit verbrachte, den größeren Jungen aus dem Weg zu gehen, im örtlichen Schwimmbad zu baden und am Beckenrand Bücher aus der Leihbücherei zu lesen. Zu Beginn des Sommers konnte er kaum schwimmen. Ende August zog er locker kraulend seine Bahnen, sprang vom hohen Turm und war unter dem Einfluss von Sonne und Wasser zu einem tief gebräunten Jüngling herangereift. Im September, als die Schule wieder anfing, entdeckte er, dass die Jungen, die ihm zuvor das Leben schwer gemacht hatten, kleine, weichliche Wesen waren, unfähig, ihn aus der Fassung zu bringen. Die beiden, die es dennoch abermals versuchten, bekamen bessere Manieren beigebracht, kurz und schmerzhaft, und Shadow stellte fest, dass er sich neu zu positionieren hatte: Er konnte nicht länger der stille Junge sein, der sich immer hübsch im Hintergrund hielt. Dafür war er jetzt zu groß, zu auffällig. Am Ende des Jahres war er Mitglied der Schulmannschaften im Schwimmen und Gewichtheben, und auch der Trainer der Triathleten wollte ihn für sein Team werben. Es gefiel ihm, groß und stark zu sein. Es verlieh ihm eine Identität. Er war ein stiller, schüchterner Bücherwurm gewesen, was für einen Jungen mit einigem Ungemach verbunden war; jetzt aber war er ein großer, tumber Brocken, und niemand erwartete etwas anderes von ihm, als dass er in der Lage war, ohne fremde Hilfe ein Sofa von einem Zimmer ins andere zu schleppen. Jedenfalls bis Laura in sein Leben trat.
Mr. Ibis hatte das Abendessen bereitet: Reis und gekochtes Grüngemüse für sich und Mr. Jacquel. »Ich bin kein Fleischesser«, erklärte er. »Und Jacquel bekommt alles Fleisch, das er braucht, im Zuge seiner Arbeit.« Neben Shadows Platz lag ein Karton mit Hühnchenstücken, die man bei einem KFC besorgt hatte, und eine Flasche Bier.
Es war mehr Huhn da, als Shadow bewältigen
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