Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
Arbeit und Erfolg, wie uns der amerikanische Mythos glauben machen will. In Wirklichkeit war die soziale und politische Situation in dem kleinen Ort und seiner Umgebung im 17. und 18. Jahrhundert kompliziert, und das gilt für die nordamerikanischen Kolonien allgemein.
Statt einer einzigen müssten mindestens drei Geschichten erzählt werden, die sich stark voneinander unterscheiden: eine europäische, eine indianische und eine afroamerikanische. Noch dazu spielen diese Geschichten in zwei sehr verschiedenen Regionen, in denen sich unterschiedliche Kulturen entwickelten, so dass die Nation – auch politisch – über Jahrhunderte hinweg zweigeteilt blieb: in den Norden und den Süden.
Im Süden brachte die erste Kolonisationswelle vor allem Abenteurer ins Land, ganz ähnlich den spanischen Eroberern, die in Mexiko und Peru nach Gold jagten; Alexis de Tocqueville nennt als typische Kolonisten im Süden »liederliche junge Leute aus guten Familien«, »alte Dienstboten« und »betrügerische Bankrotteure«. Allmählich entstand ein Gemeinwesen, das von Plantagenwirtschaft und Sklavenhaltung geprägt war, eine Gesellschaft des schnellen Reichtums und der extremen Armut. Im Norden waren die ersten Siedler echte Pioniere, tüchtig, genügsam, oft von religiösen Idealen motiviert; es gab weder großen Reichtum noch große Armut.
Darüber hinaus sind die europäischen, indianischen und afroamerikanischen »Geschichtserzählungen« auch für sich genommen keineswegs einheitlich, vielmehr gibt es verschiedene Varianten mit zum Teil sehr gegensätzlichen Perspektiven. Innerhalb der europäischen zum Beispiel die Varianten von Briten, Schweden, Finnen, Deutschen, Niederländern und (hugenottischen) Franzosen; bei der britischen Variante wiederum puritanische, schottische und irische Versionen. Es gibt wohl kein besseres Beispiel für eine komplexe und chaotische Wirklichkeit hinter einem schönen und optimistischen Geschichtsmythos als die Geschichte der Kolonisation Nordamerikas.
»Kolonialgesellschaften entwickelten sich aus denen der jeweiligen Mutterländer – doch in komplizierteren und radikaleren Prozessen als jemals innerhalb der engen Grenzen der nationalen Geschichte«, schreibt der Historiker Alan Taylor in seiner aufschlussreichen Darstellung der Anfangsjahre dieser Neuen Welt. »Die wichtigste Besonderheit war ein nie dagewesenes Zusammentreffen grundverschiedener Völker – afrikanischer, europäischer und indianischer – unter Bedingungen, die zahlreiche Spannungen verursachten.«
Die meisten amerikanischen Historiker der Gegenwart beziehen in ihre Forschungen weitaus mehr unterschiedliche Aspekte ein und setzen andere Akzente als ihre Vorgänger. Die amerikanischen Ureinwohner sind für sie nicht mehr exotische Bewohner einer »Wildnis«, in die erst die Kolonisten Ordnung und Zivilisation gebracht haben, sondern spielen in der frühen Geschichte des nachkolumbianischen Nordamerika die zentrale Rolle. Besonders in der ersten Zeit gab es eine intensive Zusammenarbeit zwischen Ureinwohnern und Siedlern. Die Siedler von der Mayflower , die den ersten Winter überlebten, haben ihre Rettung zwei freundlichen Einheimischen, Samoset und Tisquantum, zu verdanken, ohne deren Hilfe sie verloren gewesen wären.
Und auch die Sklaven, die in der älteren amerikanischen Geschichtsschreibung eine eher unbedeutende Rolle spielten, kommen nun zu ihrem Recht: Zumindest im Süden war die Sklaverei für die Wirtschaft und Gesellschaft der britischen Kolonien von entscheidender Bedeutung. Im 18. Jahrhundert kamen auf jeden freien Neuankömmling drei Sklaven. Taylor betont, ein Zusammentreffen von Menschen – aber auch Tieren, Pflanzen und Mikroben – von verschiedenen Kontinenten, wie es sich in den nordamerikanischen Kolonien abspielte, sei in Geschwindigkeit und Umfang weltgeschichtlich ohne Beispiel. »Alle mussten sich an eine völlig neue Welt anpassen, die aus dieser Kombination entstand.«
Auch Deerfield musste während des ersten halben Jahrhunderts nach seiner Gründung um das Überleben in dieser »dramatischen« neuen Welt kämpfen, und zwar als europäischer Vorposten. Zum Beispiel war der Friedhof, auf dem die Familien Arms, Hawks, Wells und Williams liegen, in früheren Zeiten eine indianische Begräbnisstätte. Und wie an vielen Orten Neuenglands war die viel beschworene »Wildnis« ringsum wesentlich zivilisierter, als die Kolonisten wahrhaben wollten.
Denn anders als im klassischen amerikanischen
Weitere Kostenlose Bücher