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Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Titel: Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Geert Mak
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den ruhigen, einträchtig-freundlichen Grüppchen an. Mehr noch, die Geschichte der frommen und mutigen Pioniere, die der beengenden Alten Welt entflohen, hier ihre Chancen nutzten und so, von Gott auserwählt, zu großem Wohlstand kamen – diese unablässig wiederholte Geschichte bildet den Kern des amerikanischen Selbstbildes. Die frommen Pioniere verkörpern wie nichts anderes die Ideale und Werte, die zum amerikanischen Nationalgefühl und Glaubensbekenntnis gehören, zum American’s Creed : Freiheit, Unternehmungsgeist, Individualismus, Demokratie, Respekt vor dem Gesetz und der Verfassung, Religiosität ohne Zwang, bürgerlicher Gemeinsinn.
    Die wahre Geschichte ist nicht ganz so einfach, nicht einmal in Deerfield. Eine Tür voller Kerben, vermutlich von Axtschlägen, erinnert an die Stürmung eines dieser friedlichen Häuser durch eine Gruppe von Indianern im Jahr 1704. Der Abend ist angenehm warm, und ich besuche den alten Friedhof. Hunderte von niedrigen Grabsteinen. Joseph Bernard (gestorben 1695) und Martha Allen (1696); die Familien Arms (19 Gräber) und Williams (22 Gräber); Justin Ball, gestorben am 5. Juni 1795. Tender were his feelings / The Christian was his faith / Honest were his dealings / And happy was his End . Aus einem Internatsschlafsaal in der Nähe schallt Bruce Springsteen. Plötzlich sehe ich einen kleinen Gedenkstein mit ein paar Zeilen über die Tragödie einer Elisabeth Corse, captured February 29, 1704, on the March to Canada, aged 34 . Auch ihre Kinder, James und Elisabeth, waren als Gefangene nach Kanada verschleppt worden, and never came back .
    Was ist hier geschehen?
    Amerikanische Historiker, die vor allem die Geschichte einzelner Orte und Regionen erforschen, haben sich von dem allzu schönen Mythos längst verabschiedet. Denn es ist nicht mehr zu übersehen, welcher Preis für die Kolonisierung durch die Europäer bezahlt werden musste, und zwar von den ursprünglichen Bewohnern und der ursprünglichen Natur. Gab es hier wirklich nur Wildnis, bevor die Europäer das Land erschlossen? Lebten hier wirklich nur kleine Gruppen von Indianern, und das nur zeitweise, als Nomaden?
    Und außerdem: Wo sind in diesem schönen amerikanischen Mythos die Verlierer, die vielen Pioniere, die keinen Erfolg hatten, sondern durch Krankheiten, Hunger, Kälte oder in einem der zahlreichen Scharmützel ums Leben kamen? Von den 102 Kolonisten der Mayflower zum Beispiel überlebte nur gut die Hälfte den harten ersten Winter. Und wo sind die amerikanischen Ureinwohner, denen das Land weggenommen wurde und die zu Hunderttausenden an bis dahin in Amerika unbekannten, von den Europäern eingeschleppten Krankheiten wie Pocken und Masern starben? Die »Pilgerväter« konnten überleben, weil sie ein fast verlassenes Indianerdorf mit sorgfältig bestellten Feldern vorfanden; der größte Teil der einheimischen Bevölkerung war der Pockenepidemie der Jahre 1618 und 1619 zum Opfer gefallen. Und was sagt der Mythos über die schwarzen Sklaven, die im 18. Jahrhundert massenweise aus Afrika nach Nordamerika gebracht wurden, um – besonders auf den Plantagen der südlichen Kolonien – den Ausfall an indianischen Arbeitskräften zu kompensieren?
    Es habe letztlich viel mehr Verlierer als Gewinner gegeben, schreibt der Historiker John Murrin und spricht von einer »Tragödie solchen Ausmaßes, dass keine Vorstellungskraft sie ganz erfassen kann«. Doch die wenigen halbwegs gesicherten Daten sprechen für sich: Trotz der hohen Zahl von Neuankömmlingen ging die Gesamtbevölkerung Nordamerikas zwischen 1492 und 1776 zurück. In den britischen Kolonien, in denen 1776 eine Revolution für Freiheit und Demokratie ausgerufen wurde, war jeder fünfte Einwohner ein Sklave. Von den schätzungsweise 5 bis 10 Millionen amerikanischen Ureinwohnern, die nördlich von Mexiko gelebt hatten, waren um 1830 noch etwa 300 000 übrig. Ein Siedler in Massachusetts berichtete im Jahr 1620, die Indianer stürben »haufenweise, so wie sie in ihren Häusern lagen; und die Lebenden, die noch kräftig genug waren, flohen und ließen sie sterben und ließen ihre Gerippe über der Erde, ohne Begräbnis […] Und als ich in dieser Gegend angekommen war, boten die Knochen und Schädel rings um ihre Siedlungen einen solchen Anblick, dass ich das Gefühl hatte, in jenen Wäldern nahe der Massachusetts Bay, durch die ich reiste, ein neues Golgota gefunden zu haben.«
    Auch in der Geschichte von Deerfield gab es nicht nur Frömmigkeit, harte

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