Amnesie - Robotham, M: Amnesie - Lost
die Stadtplaner kamen. Die Pubs entlang der Docks sind verschwunden und von Sportstudios, Internetcafés und Saftbars mit Getreidedrinks auf der Karte ersetzt worden.
Ein wenig vom Fluss entfernt finden wir eingeklemmt zwischen
viktorianischen Reihenhäusern ein traditionelles Café und setzen uns an einen Fenstertisch. Die Wände sind mit Plakaten von Süd- und Mittelamerika bedeckt, es riecht nach gekochter Milch und Haferschleim.
Zwei große, plumpe Frauen führen das Lokal – die eine nimmt die Bestellungen auf, die andere kocht.
Spiegeleier starren mich von meinem Teller an wie große missgünstige Augen, darunter liegen ein schwarzes Würstchen und ein verzerrter Mund aus Speck. Ali isst ein Salatsandwich und schenkt Tee aus einer Edelstahlkanne ein. Das Gebräu ist dunkelbraun, in der Flüssigkeit schwimmen Blätter.
Eine Schule in der Nähe hat gerade Mittagspause, und die Straße ist plötzlich voller schwarzer Teenager, die eimerweise Pommes essen. Einige stehen rauchend neben einer Telefonzelle, andere tauschen Kopfhörer und hören Musik.
Joe versucht, mit der linken Hand seinen Kaffee umzurühren, gibt schließlich auf und nimmt die Rechte. »Warum dachten Sie, dass Mickey möglicherweise auf dem Boot war?«, schneidet seine Stimme durch das Klappern von Messern und Gabeln auf dem Geschirr.
Ali spitzt die Ohren. Das hat sie sich auch schon gefragt.
»Ich weiß nicht. Ich habe an das Foto gedacht. Warum sollte ich es bei mir tragen – es sei denn, um sie zu identifizieren? Es ist schließlich drei Jahre her. Sie wird jetzt anders aussehen. «
Ali blickt von mir zu dem Professor und zurück. »Sie glauben, dass sie noch lebt ?«
»Ich habe mir das alles nicht eingebildet«, sage ich und zeige auf mein Bein. »Sie haben das Boot gesehen. Menschen sind gestorben. Ich weiß, dass es etwas mit Mickey zu tun hat.«
Ich habe mein Essen nicht angerührt. Ich habe keinen Hunger mehr. Vielleicht hat der Professor Recht – vielleicht versuche ich, das Unrecht der Vergangenheit gutzumachen und mein eigenes Gewissen zu erleichtern.
»Wir sollten zurück ins Krankenhaus fahren«, sagt er.
»Nein, noch nicht, ich möchte erst zu Rachel Carlyle. Vielleicht weiß sie etwas über Mickey.«
Joe nickt zustimmend. Ein guter Plan.
4
Das Herbstlaub wirbelt über die Randolph Avenue und sammelt sich an der Treppe der Dolphin Mansions. Das Haus sieht unverändert aus mit seinem verzierten weißen Bogen über dem Eingang und den bronzefarbenen Buchstaben auf dem Glas über der Tür.
Ali trommelt mit kurzen manikürten Fingernägeln ungeduldig aufs Steuer. Das Haus macht sie nervös. Wir erinnern uns beide an eine andere Jahreszeit, die Hektik, den Lärm und die brütende Hitze, den Schock und die Trauer. Joe kann das nicht wissen, muss jedoch irgendwas spüren. Durch das Laub schlurfen wir über die Straße und steigen die Treppe zur Haustür hinauf. Zwischen neun und sechzehn Uhr öffnet sich die Tür auf Knopfdruck automatisch. Ich stehe in der Halle und blicke ins Treppenhaus hoch, als würde ich einem fernen Echo lauschen. Alles bewegt sich diese Treppe hinauf oder hinunter – Briefe, Möbel, Nahrungsmittel, neugeborene Babys und vermisste Kinder.
Ich kann mich an Namen und Gesichter aller Bewohner erinnern. Ich könnte ein Diagramm malen, das sämtliche Beziehungen, Kontakte, Beschäftigungsverhältnisse und Alibis für den Zeitpunkt von Mickeys Verschwinden darstellt. Ich erinnere mich nicht daran, als ob es gestern gewesen wäre, sondern wie an die verschmähten Spiegeleier mit Speck von gerade eben.
Rachel Carlyle zum Beispiel. Zum letzten Mal gesehen habe ich sie beim Gedenkgottesdienst für Mickey, ein paar Monate nach dem Prozess. Ich kam zu spät und habe mich ganz nach hinten gesetzt, weil ich mir vorkam wie ein Eindringling. Rachels leises, von Medikamenten betäubtes Schluchzen erfüllte die
Kapelle, jede Hoffnung und jeder Lebensmut schien aus ihr gewichen.
Ein paar Nachbarn aus den Dolphin Mansions waren ebenfalls anwesend, unter anderem Mrs. Swingler, die Katzenlady, deren Frisur aussah, als hätte sich eine ihrer Miezen auf ihrem Kopf zusammengerollt. Kirsten Fitzroy hatte den Arm um Rachels Schulter gelegt. Neben ihr saß S.K. Dravid, der Klavierlehrer. Ray Murphy, der Hausmeister, und seine Frau hatten ein paar Reihen weiter hinten Platz genommen. Zwischen ihnen saß zuckend und murmelnd ihr Sohn Ronnie. Er leidet am Tourette-Syndrom und bewegt sich hektischer als ein Lichtschalter mit
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