Amnesie - Robotham, M: Amnesie - Lost
das Lebenszeichen nicht eindeutig.«
Joe hat seinen Stuhl ein wenig von mir abgewandt, sodass er mich halb von der Seite anblickt. Wenn ich ins Stocken gerate, denkt er sich eine neue Frage aus. Es ist wie Malen nach Zahlen, er arbeitet sich zur Bildmitte vor.
»Warum würde jemand drei Jahre warten, bevor er Lösegeld fordert?«
»Vielleicht wurde sie nicht wegen des Lösegelds entführt – jedenfalls nicht ursprünglich.«
»Warum dann?«
Ich gerate ins Schwimmen. Laut Rachel wusste niemand in England, dass Alexej Mickeys Vater ist. Sir Douglas wusste es offensichtlich doch, aber wenn er Mickey entführt hätte, würde er wohl kaum eine Lösegeldforderung abschicken.
»Irgendjemand hat Mickey also verschleppt, aber damit kommen wir wieder auf dieselbe Frage zurück. Warum drei Jahre warten?«
Wieder weiß ich keine Antwort. Ich muss raten. »Entweder er hatte sie nicht von Anfang an, oder er wollte sie behalten.«
»Warum sollte er sie dann jetzt aufgeben?«
Nun erkenne ich, worauf er hinauswill. Die Lösegeldforderung ergibt keinen Sinn. Wie stelle ich mir das vor? Dass Mickey in den vergangenen drei Jahren an eine Heizung gekettet war? Das ist nicht glaubwürdig. Sie sitzt nicht mit baumelnden Beinen in einem Wartezimmer und hofft darauf, gerettet zu werden.
Joe redet immer noch. Es gibt einen weiteren Aspekt. Wenn Mickey noch lebt, müssen wir die Frage in Betracht ziehen, ob sie überhaupt nach Hause will. Im Alter von sieben sind drei Jahre eine lange Zeit. Sie hätte Vertrauen gefasst und eine neue Familie gefunden haben können.
»Aber sie hat einen Brief geschrieben!«
»Was für einen Brief?«
Die Erkenntnis trifft mich wie eine scharfe Böe. Daran erinnere ich mich! Eine Postkarte mit Kinderhandschrift – in Großbuchstaben! Ich kann den Text auswendig.
LIEBE MUMMY,
ICH VERMISSE DICH SEHR UND MÖCHTE NACH HAUSE KOMMEN. ICH BETE JEDEN ABEND DARUM. SIE SAGEN SIE WÜRDEN MICH GEHEN LASSEN WENN DU IHNEN ETWAS SCHICKST. ICH GLAUBE SIE WOLLEN GELD. ICH HABE 25 PFUND UND EIN PAAR GOLDMÜNZEN IN MEINER
SCHATZKISTE UNTER MEINEM BETT. BITTE BEEIL DICH. ICH DARF DICH BALD WIEDER SEHEN ABER NUR WENN DU NICHT DIE POLIZEI ANRUFST.
ALLES LIEBE
MICKEY
PS: ICH HABE JETZT BEIDE VORDERZÄHNE
Fast hätte ich Joe umarmt. Mein Gott, fühlt es sich gut an, sich zu erinnern. Besser als Morphium.
»Was haben Sie mit der Postkarte gemacht?«, fragt er.
»Ich habe sie analysieren lassen.«
»Wo?«
»In einem Privatlabor.«
Ich stelle mir vor, wie die Postkarte unter Glas liegt und von irgendeiner Maschine gescannt wird – von einem Video-Spectral-Comparator. Mithilfe dieses Geräts kann man feststellen, ob Buchstaben verändert wurden und welche Tinte verwendet wurde.
»Es sah aus wie die Handschrift eines Kindes.«
»Klingt so, als wären Sie sich nicht sicher.«
»Bin ich auch nicht.«
Ich erinnere mich an etwas, das mir ein Handschriftenexperte erklärt hat.
Die meisten Kinder schreiben das »R« so, dass der Schrägstrich von dem Punkt abgeht, wo sich die vertikale Linie und der Kringel treffen. Auf der Postkarte war das nicht der Fall. Und der mittlere Querbalken des großen »E« ist bei Kindern meistens genauso lang wie der obere und der untere. Außerdem kreuzt bei ihnen die Schlaufe des großen »J« die vertikale Linie, während Erwachsene nur einen Halbkreis unter der Zeile andeuten.
Aber das entscheidende Indiz waren die Zeilen selbst. Kinder finden es schwierig, auf unliniertem Papier zu schreiben. Ihre Schrift neigt dazu, nach rechts unten abzusacken. Außerdem
können sie schlecht einschätzen, wie viel Platz die Wörter einnehmen, sodass es am rechten Rand häufig eng wird.
Die Zeilen auf der Postkarte waren absolut gerade.
»Die Karte wurde also nicht von einem Kind geschrieben?«, fragt Joe.
»Nein«
Ich spüre plötzlich Herzstiche.
Joe zwingt mich wieder zur Konzentration. »Was ist mit den Haaren?«
»Es waren sechs.«
»Gab es Anweisungen wegen des Lösegelds?«
»Nein.«
»Es muss also weitere Briefe oder Anrufe gegeben haben.«
»Klingt vernünftig.«
Joe malt immer noch auf seinem Block herum, eine Spirale mit dunklem Kern. »Die Päckchen mit dem Lösegeld waren wasserdicht und so gepackt, dass sie schwimmen konnten. Durch das orangefarbene Plastik waren sie im Dunkeln besser zu erkennen. Warum vier identische Päckchen?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht waren es vier Entführer.«
»Die hätten die Diamanten auch selber aufteilen können.«
»Sie haben eine
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