Amnion 2: Verbotenes Wissen
versetzte. Sie hätte zäher sein müssen. Sie gehörte zur VMKP: Die Polizeiakademie hatte sie für solche Notsituationen geschult. Doch als das Dunkel sie umhüllte, hatte es sie mit derartig unanfechtbarer Absolutheit umfangen, daß sie keine Gegenwehr wußte. Darin glich es dem Hyperspatium-Syndrom. Sie hatte ihre gesamte Familie, alle ihre Verwandten, ums Leben gebracht; niemand war ihr geblieben außer dem Kind. Es gab keinen Schutz gegen die unergründliche Kluft zwischen den Sternen.
Keiner der Menschen ringsum hatte dagegen irgendeinen Schutz.
Allerdings spürte Morn noch Schwerkraft.
Nicht die zentrifugale Schwerkraft der Eigenrotation; nichts so deutlich Bemerkbares. Es handelte sich um lineare, zwar schwache, jedoch beständige Gravitation längs eines Vektors, in dem sie der Zugkraft ihrer Arme entgegenwirkte.
Diese G entstand durch die Kurskorrektur… Der Maschinenraum arbeitete mit den Parametern der Steuerung. Noch erfolgte der minimale, aber gleichmäßige Seitwärtsschub, der die Käptens Liebchen allmählich in die Flugrichtung ihres tatsächlichen Ziels lenkte.
Das Raumschiff war noch flugtüchtig.
»Liete!« hallte plötzlich Mikkas Stimme durch die Brücke. »Liete Corregio! Kaltstart des Wartungscomputers vornehmen! Wir brauchen hier oben Licht. Wir benötigen Luft.« Liete Corregio war die Zweite Offizierin, also Nicks zweite Stellvertreterin. Mikka mußte sie mit der Aufsicht im Mittelbereich des Raumschiffs betraut haben.
Aus Mikkas Handkommunikator knisterten Worte, die für Morn lediglich wie Geschnatter klangen. »Zum Henker, was glaubst du denn, was passiert ist?« entgegnete Nicks Erste Offizierin. »Kaltstart, hab ich gesagt!«
Fast augenblicklich erhellte flackernde Beleuchtung das Kommandomodul. Mit hörbarem Knirschen erneuerte die Käptens Liebchen ihre Rotation.
Das eigene Gewicht warf Morn abwärts, sie prallte mit den Füßen so heftig aufs Deck, daß ihr die Fußsohlen weh taten, und fast verrenkte sie sich das linke Knie. Nur ihr Klammergriff an Nicks Sitz hielt sie aufrecht. Das Schnaufen rings um sie wich Lauten des Aufatmens.
»So ein elender Drecksack«, grummelte Carmel. »Das Virus ausgerechnet da hineinzusetzen…!«
Nick schüttelte den Kopf. Ein kümmerliches Grinsen umspielte noch seinen Mund, aber er runzelte angestrengt die Stirn. Er wirkte, als wäre er sich dessen nicht bewußt, was er tat, als seine Hände den Wartungscomputer von seinem Kontrollpult abkoppelten.
»Danke«, rief Mikka harsch in ihren Handkommunikator, ehe sie das Gerät zurück an ihren Gürtel hakte.
Sie wandte sich an Nick. »Du glaubst nicht, daß ’s das schon war, wie?« fragte sie. »Aber was hat dann diesen Stromausfall herbeigeführt?«
»Oh, es war das Virus, davon bin ich überzeugt«, sagte Nick versonnen. »Aber die Sache war zu einfach. Wir können die Bordsysteme unbegrenzt durch die Automatik regeln lassen, wenn’s sein muß. Das hat Orn gewußt. In der Wartung kann das Virus uns nicht ernsthaft gefährlich werden. Das wirkliche Problem steckt irgendwo anders.«
Dem stimmte Morn insgeheim zu. Ihr tiefes Grauen vor der Leere des Alls spiegelte ihr vor, sie bekäme zuwenig Luft in die Lungen, obwohl die Skrubber der Luftfilteranlagen für keine volle Minute außer Betrieb gewesen waren; aber so oder so hegte sie die Überzeugung, daß Nick recht hatte. Ein Virus, das das Raumschiff nicht effektiver lahmlegen konnte, hätte Orn nicht befriedigt.
In unsinniger Besorgnis versuchte sie, das Kind in ihrem Leib zu erfühlen, seine Verfassung einzuschätzen. Aber natürlich war es noch viel zu winzig, um irgendwie feststellbar zu sein.
Grimmig beschloß sie, es bei der nächsten Gelegenheit abzutreiben. Sie durfte es sich nicht erlauben, durch Sorge um ein Kind irritiert zu werden, das sie sich nicht gewünscht hatte und das sie gar nicht wollte. Der Gedanke, es könnte durch das plötzliche Ausbleiben der Schwerkraft und ihre ebenso abrupte Wiederkehr – oder durch Morns eigene Verstörtheit – verletzt worden sein, rief bei ihr erneuten Ekel hervor.
»Guter Gott, bei uns geht ’n Virus um!« Lind kicherte am Rande der Hysterie. Er aktivierte an seiner Kontrollkonsole Funkfrequenzen und blökte in die Dunkelheit des Alls hinaus. »Antibiotika! Wir brauchen Anti-bi-otikaaa!«
Unverzüglich stapfte Mikka die hohlkehlige Krümmung der Brücke hinauf und schwang neben Linds Platz bedrohlich die Hüfte heraus. »Legst du’s auf ’ne Degradierung an?« fragte sie.
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