Amnion 4: Chaos und Ordnung
Mutter?« Fasner war verdutzt; seine Miene zeigte es so offensichtlich wie seine Emanationen. »Norna? Weshalb möchten Sie denn sie besuchen?«
Mit gespielter Verlegenheit hob der VMKP-Polizeipräsident die Schultern. »Sie ist ja im Laufe der Jahre zu einer lebenden Legende geworden… So etwas wie ein Orakel, könnte man sagen. Ich möchte sie fragen, was ihr die Vorstellung eingegeben hat, ich hätte vor, Ihnen Schwierigkeiten zu machen.«
Holt Fasner musterte Warden mit höchster Wachsamkeit. Die Anzeichen der Verunsicherung in seiner Aura wiesen darauf hin, daß er in Wardens Bitte Bedrohliches erahnte, aber es nicht erkennen konnte. Doch im nächsten Moment löste sich sein verkniffener Gesichtsausdruck, und er lachte hämisch.
»Sie armseliges Stück Scheiße, Sie versuchen noch immer, irgendwelche Faxen mit mir zu treiben. Nur zu, gehen Sie« – er winkte mit beiden Händen –, »besuchen Sie sie. Von mir aus haben Sie daran Ihre Freude. Sie und mein Mütterchen sind einander würdig. Und es besteht ’ne gute Aussicht, daß es mit Ihnen so wie mit ihr endet.«
Während Warden die Tür öffnete und hinter sich schloß, hörte er, wie Holt Fasner in den Interkom-Apparat sprach, den Betriebsschutz instruierte, den VMKP-Polizeipräsidenten zu Norna Fasner zu bringen und ihn zehn Minuten lang mit ihr plaudern zu lassen, ehe man ihn zum Shuttle begleitete.
»Es ist privat«, sagte Warden zu den zwei Betriebsschutzmännern, die ihn in die Mitte nahmen. Kaum aus Fasners Nähe entschwunden, wurde sein Auftreten wieder selbstbewußt und befehlsgewohnt: seine Stimme klang nach der Unerschütterlichkeit von Felsgestein. »Ich möchte mit ihr allein reden. Falls Sie mir nicht trauen, fragen Sie Ihren Boss.«
»Jawohl, Sir.« Was den VMK-Betriebsschutz anging, war Warden Dios nach wie vor der zweitmächtigste Mann des Human-Kosmos. »Bitte hier entlang.«
Indem er forsch ausschritt, um seine verkrampften Beine zu lockern, folgte er den beiden Wachen. Sie sind für mich da, hatte Fasner behauptet, Sie sind mein Polizeipräsident. Da indes hatte er sich geirrt. Alles andere mochte Warden verloren haben, aber er war allemal noch er selbst.
Mit allem, was ihm blieb, er noch hatte, beabsichtigte er den Kampf fortzusetzen.
WARDEN
Wenn er Scham empfand, war er in Bestform. – Erklären hätte er diese Merkwürdigkeit nicht können; er war sich ihrer kaum bewußt. Dennoch handelte es sich um eine Tatsache. Das Spannungsfeld zwischen seiner unerstickbaren, leidenschaftlichen Hingabe an so hohe Maßstäbe der Redlichkeit, Pflichterfüllung und des Leistungswillens, daß er ihnen niemals ganz genügen konnte, und den Kummergefühlen, die er angesichts seiner Fehlbarkeit empfand, sobald er unter den selbstgesetzten Standard absank, erwies sich für ihn als fruchtbar. Es machte ihn auf Stärken aufmerksam, über die zu verfügen er geahnt hatte.
Scham und Idealismus waren die Mittel, mit denen Holt Fasner ihn manipuliert hatte, bis er zu dem wurde, was er heute war: ein der Korruption schuldiger Polizeipräsident der VMKP, der Mann, der am unmittelbarsten die Verantwortung für den moralischen Verfall der Weltraumpolizei trug. Fasner hatte seinen Idealismus mißbraucht – seine grundlegende Überzeugung, daß es eine ehrenvolle, unentbehrliche Aufgabe der Polizei sei, der Menschheit zu dienen und sie zu schützen –, um ihn in eine anfällige Situation zu bringen; danach seine Scham ausgenutzt, um ihn von seinen Idealen immer weiter abzurücken.
In gewisser Weise hatte Warden es geduldet. Wahrscheinlich hätte er sich jederzeit weigern können; der Mann bleiben dürfen, der er zu sein wünschte, indem er sich von Fasner feuern ließ. Schlimmstenfalls wäre er auf Fasners Geheiß ermordet worden. Na und? Aus eigener Erfahrung wußte Warden, daß es ärgere Schicksale als den Tod gab.
Aber er hatte sich nicht verweigert. Bei jeder Krise hatte er der Gerissenheit des Drachen nur bis zu einem gewissen Punkt widerstrebt; dann hatte er sich doch wieder mitziehen lassen.
Dafür existierte ein in bestimmter Hinsicht ganz einfacher Grund.
Sein Lebtag lang hatte er sich als zu klein für seine großen Träume erachtet; als der Herausforderung nicht gewachsen, sie wahrzumachen. Mit Gewißheit hatte er es nicht verstanden, Fasner genau zu durchschauen, als der Drache ihn zunächst für die Tätigkeit beim Internschutz der Astro-Montan-AG anwarb. In blinder Naivität hatte er geglaubt, ihm täte sich die Chance auf,
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