Amnion 4: Chaos und Ordnung
Konzil die Befugnis vorliegt, die Finanzkonten der VMKP zu prüfen – vor allem Hashi Lebwohls Transaktionen –, werde ich, wie ich glaube, die Antwort finden. Also denken Sie lieber noch einmal über die ›Einzelheiten der Funktion‹ nach, Kapitän Vertigus. Überlegen Sie sich, ob es ein ›schlimmeres Schicksal‹ gibt. Rufen Sie mich an, falls Sie zu anderen Einsichten gelangen.«
Als wäre er ein klobiges, unaufhaltsames Ungetüm, riß Igensard die Tür auf und stapfte hinaus.
Sixten starrte die Tür an, nachdem sein Besucher fort war; momentan konnte er sich gar nicht vorstellen – oder vielleicht erinnerte er sich nicht mehr –, welchen Nutzen es eintragen sollte, den EKRK-Sonderbevollmächtigten verärgert zu haben. Wer einen Vorteil hatte? Sixten mochte es gar nicht wissen. Er wollte nichts anderes als schlafen. Die abgestumpfte Wahrnehmung des Greisenalters beschränkte alles sonstige auf den Rang von Belanglosigkeiten.
Warden Dios, was treibst du da?
Mit Mühe blieb er lange genug wach, um sich über seinen Interkom-Privatapparat zu beugen. »Sie können nun aus Ihrem Versteck kommen«, murmelte er hinein. »Er ist weg.«
»Ich bin schon unterwegs«, antwortete ihm augenblicklich eine Stimme.
Sie ist aufmerksam, bemerkte Sixten. Prächtig. Wenigstens einer von uns muß auf der Hut sein.
Durch diesen Gedanken getröstet, ließ er sich, ohne daß es diesmal einer Provokation seitens Maxim Igensards bedurft hätte, ins Dunkel entgleiten.
Abermals schreckte die Interkom ihn aus Träumen, an die er sich nicht erinnerte und die ihn auch gar nicht kümmerten.
»Kapitän Vertigus?« Marthes Nachfolgerin zählte kaum dreißig, war praktisch noch eine Göre. In Sixtens vom Schlaf konfusen Gehör klang ihr Stimmchen, als wäre sie gerade erst aus der Wiege gekrochen. »Koina Hannisch, Direktorin des Ressorts Öffentlichkeitsarbeit bei der VMKP, ist da.«
Er seufzte. »Schicken Sie sie rein.« Warden Dios hatte Milos Taverner bestochen, damit er Angus Thermopyle eine Falle stellte. Um im Konzil das Autorisierungsgesetz durchzudrücken.
»Wo greift die Personalabteilung eigentlich diese einfältigen Kindchen auf?« nuschelte Sixten, während er seinen Anzug glattstrich. Glaubt sie etwa, ich wüßte nicht, wer Koina Hannish ist?
Für einen Moment vermißte er Marthe so schmerzlich, daß ihm Tränen in die Augen traten. Sie hatte sich als seine engste Helferin und Vertraute bewährt – Mitarbeiterin und Sekretärin –, seit er im EKRK saß; und während der vergangenen fünfzehn Jahre, seit dem Tod seiner Frau, war sie seine einzige wirkliche Kameradin gewesen. Die Erkenntnis, daß sie in Fetzen gesprengt worden war, nur weil irgendwo eine herzlose Kanaille, die die Macht hatte, Kaze einzusetzen, den Tod eines alten Sacks wie ihm wünschte, flößte Sixten Bitterkeit und Härte ein.
Mein Standpunkt ist von solchen Einzelheiten der Funktion wie Ehre oder Dienstvergehen völlig unabhängig… Zeigen Sie mir die Zahl des Tiers auf Warden Dios’ Stirn, und ich bleibe auch dann bei meiner Haltung.
Nichts als Quatsch.
Koina Hannish kam ins Büro, während er sich noch damit beschäftigte, sich die Tränen aus den Augen zu wischen.
Sobald sie ihn sah, blieb sie stehen. »Bitte entschuldigen Sie«, sagte sie leise. »Ich störe Sie. Ich warte draußen.«
Sixten winkte beschwichtigend ab. »Ach was, machen Sie keine Umstände.« Er bat sie herein, gab mit einer Gebärde zu verstehen, daß sie die Tür schließen sollte. »Nehmen Sie ’n Rat von mir an«, brummelte er mit schwächlicher Stimme, während er sich die Nässe aus den Augen zwinkerte. »Werden Sie nicht alt. Man wird dabei bloß sentimental.«
Koina Hannish war so höflich, sich nach seiner Aufforderung zu richten. Indem sie trotz ihres einwandfrei professionellen Auftretens Freundlichkeit ausstrahlte, schloß sie die Tür und setzte sich in den eben von Igensard verlassenen Sessel.
»Kapitän Vertigus, in meiner Gegenwart können Sie so sentimental sein, wie Sie wollen«, meinte sie halblaut. »Es macht mir nichts aus. Im Gegenteil, ich bin froh, wenn ich merke, daß es noch Menschen auf der Welt gibt, die etwas zu fühlen imstande sind.«
Sixten mochte kein altes Leid diskutieren; und ebensowenig aktuelle Anlässe zur Verzweiflung. Wenn er die Wahl hatte, befaßte er sich lieber mit seinen Fehlschlägen. »Ich vermute«, fragte er gedämpft, »Sie haben nicht den Eindruck gewonnen, daß Sonderbevollmächtigter Igensard ein sonderlich
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