Amnion 4: Chaos und Ordnung
hinüber in einen Schockzustand. Vermutlich fanden auch unter den Knochen Blutungen statt. Sollte im Gehirn ein Hämatom entstehen, mochte sie daran sterben.
»Scheiß auf die Brücke«, empfahl Davies. Das Husten tat weh, aber er konnte es ertragen. Es blieb weit hinter der Gefahr zurück, in der Mikka sich befand. »Du benötigst medizinische Behandlung. Hau ab ins Krankenrevier. Ich komme gleich nach.«
Und Sib mußte auch hingeschafft werden. Möglicherweise hatte er Erbrochenes verschluckt und in der Luftröhre stecken; vielleicht war er am Ersticken…
Mikka schüttelte den Kopf. »Du mißverstehst die Lage.« Ihre Worte klangen nach Niedergeschlagenheit und Trostlosigkeit, als gäbe es nichts mehr zu empfinden außer tiefstem Schrecken. »Nick hat uns auf der Brücke anzutanzen befohlen. Sofort. Ganz egal, in welcher Verfassung wir sind.« Sie brachte ihre Äußerungen nur mühevoll hervor, mit so gepreßter Stimme sprach sie. »Er hat«, erklärte sie, »Morn in der Gewalt.«
Davies warf ihr einen Blick zu, der einem Aufschrei glich.
Mikka reagierte mit einem schwachen Achselzucken. »Wir sind am Ende. Feierabend. Vector ist auch verletzt. Morn ist die einzige, die nicht verwundet oder bewußtlos ist« – Davies sah in Mikkas Augen, daß sie an ihren Bruder dachte, der irgendwo nahebei ohne Beistand blieb –, »aber ich glaube, sie ist in Hysterie verfallen.«
»Dann braucht sie mich.« Schwalle von Serotonin und Noradrenalin klärten Davies das Gehirn; er kannte kein Zögern. Er hat Morn in der Gewalt. Davies’ rechter Arm war bis auf weiteres nutzlos. Er drehte sich so zur Seite, daß er mit der Linken den Gurt vom Stuhl haken konnte. Ich glaube, sie ist in Hysterie verfallen.
Fast augenblicklich linderte die Schwerelosigkeit die Beschwerden des gebrochenen Arms. Obwohl seine Rippen aneinanderschabten, verließ Davies die Kombüse und machte sich auf den Weg zur Brücke.
Trotz der Unruhe, die ihn antrieb, bewegte er sich in Anbetracht der Verletzungen achtsam voran. Längs der Wände montierte Haltegriffe halfen ihm dabei, sein Vorwärtsschweben zu lenken, bis er die Konnexblende erreichte. Am Niedergang verharrte er, hielt sich am Geländer fest und schaute sich erst einmal auf der Brücke um.
Nick saß an der Kommandokonsole und grinste wie ein Totenschädel; er zeigte Davies die gebleckten Zähne und die dunklen Narben wie Siegesfahnen. Angus hatte im Andrucksessel des Ersten Offiziers Platz genommen: hockte reglos da, die gesamte Muskulatur starr verkrampft, wandte nicht einmal den Kopf, um seinen Sohn anzublicken. Vector Shaheed, an den Sessel vor dem Technikkontrollpult geschnallt, kauerte da, als drohte ihm eine Ohnmacht; er hatte die Bordmontur geöffnet und sich von den Schultern gezogen, mit einem Ärmel die rechte Hand umwickelt. Blut tränkte den Stoff. Im weißlichfahlen Licht wirkte seine blasse Haut schlaff, nahezu leblos.
Anscheinend hatte keiner von ihnen nur das geringste Interesse, Morn Hilfe zu leisten.
Sie schwebte dicht unter der Decke, schaukelte sachte gegen das Metall, das Gesicht zwischen den Knien verborgen, die Arme um die Schienbeine geschlungen. Die Gewaltsamkeit, mit der sie Halt an sich selbst bewahrte, ließ sich deutlich erkennen. Sie hatte sich klein gemacht, weil es für sie sonst keinen Schutz mehr gab: sie hatte nichts mehr zu ihrer Verteidigung aufzubieten, alle ihre Hoffnungen waren zerstoben.
Im ersten Moment blieb Davies unfähig zu jeder Regung. Nur Morn zu betrachten war er imstande, während ihn Betroffenheit überkam und er, als durchführe ihn die Entladung eines Stunnerknüppels, mit krasser Klarheit dachte: Das ist keine Hysterie. Es ist Wahnsinn. Sie ist übergeschnappt. Nick mußte ihr Zonenimplantat-Kontrollgerät an sich gebracht haben. Die Aussicht, wieder unter seine Macht zu geraten, war wohl zuviel für sie gewesen.
Und es war mehr, als Davies ertragen konnte. Ungeachtet des gebrochenen Arms, der kaputten Rippen und des angeschlagenen Schädels stieß er sich vom Niedergang ab, schwang sich mit aller Kraft auf Nick zu.
Angus fing ihn ab.
Davies merkte gar nicht, wie es geschah. Angus war sehr wahrscheinlich nicht angeschnallt gewesen; vermutlich hatte er doch noch den Kopf rechtzeitig genug gedreht, um Davies’ Absicht zu erkennen. Auf alle Fälle prallte Davies, anstatt Nick angreifen zu können, gegen Angus, torkelte dadurch zur Seite.
Für eine Sekunde setzte der Schmerz, der bei dem Zusammenprall den Arm und die Rippen
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