Amnion 4: Chaos und Ordnung
nur noch Brei in den Gliedmaßen, drehte er sich wieder dem Platz des Ersten Offiziers zu.
Morn erkannte die Ursache der plötzlichen Wandlung. Sein Data-Nukleus hatte ihn rigoroser Kontrolle unterworfen: Emissionen der Z-Implantate hatten das Husten unterdrückt, seine Verzweiflung niedergerungen, das Triumphgefühl weggefegt. Angus war ein unifizierter Cyborg, beherrschte durch Entscheidungen, die andere Menschen, die es nicht scherte, was er empfand oder welche Nöte ihn plagten – die es nur interessierte, wie er benutzt werden konnte –, schon vor Tagen oder Wochen für ihn getroffen hatten. Für einen kurzen Moment waren die künstlich auferlegten Schranken von seinem grauenhaften menschlichen Leidensdruck gesprengt worden. Aber jetzt hatte der unabweisbare Zwang, den der Interncomputer auf die Nervenzentren seines Gehirns ausübte, ihn von neuem an der Kandare.
Wenn er etwas tat, dann weil Warden Dios oder Hashi Lebwohl – oder Nick Succorso als ihr Handlanger – es von ihm verlangten, nicht weil er selbst es wollte.
Sie durchschaute seine Lage aus eigener Erfahrung. Zwar war sie nie unifiziert gewesen. Doch ihr war von Angus die gleiche Art von Zwang aufgenötigt worden; und später hatte sie sich den Wirkungsweisen des Z-Implantats aus eigenem Antrieb unterzogen. Immer wieder hatte sie am eigenen Leib gespürt, wie elektromagnetische Funktionen wahre Berge des Elends und Wehs von ihren Schultern wälzten. Ich bin nicht dein Sohn.
Davies öffnete den Mund: Er beabsichtigte irgendeine feindselige Bemerkung von sich zu geben, wollte Morn schützen, indem er sich selbst als Ziel für Angus’ Schlechtigkeit darbot. Morn sah es seiner Miene an. Mit einer Mühe, die ihr ein Zittern verursachte, als hätte Fieber sie gepackt, hob sie die Hand zur Warnung, um Davies zum Schweigen zu bringen.
Einen gleichen Ausdruck der Furcht und Wut im Gesicht wie sein Vater, erwiderte er ihren Blick. Aber er klappte den Mund zu. Nur ein dunkles, grimmiges Knurren drang aus seiner Kehle.
Mit induzierter Stetigkeit tippte Angus an der Konsole des Ersten Offiziers Tasten.
Vollkommen mit dem Latein am Ende, schaute Morn zu, wie aus dem Druckerschlitz der Konsole ein dünnes Blatt zum Vorschein kam.
Angus riß den Ausdruck so bedächtig ab, als wäre er ein Wertgegenstand. Sein Data-Nukleus schrieb ihm Präzision vor. Anschließend vollführte er in der leichten G des Asteroiden eine tadellose Drehung und verließ die Konsole. Trotz der Zwänge seiner Zonenimplantate erregten seine Bewegungen den Eindruck nahezu anmutiger Leichtigkeit und Unbekümmertheit.
Seine Stiefel berührten vor Davies das Deck. Er bremste sich mit der Handfläche an Davies’ Schulter ab.
Davies regte sich nicht. Starr vor Verständnislosigkeit, duldete er die Berührung, ohne zusammenzuzucken; ohne zuzuschlagen. Seine Aufmerksamkeit galt dem Blatt in Angus’ Hand.
Unverändert langsam, als wäre die Situation für sinnlose Hast zu dringlich geworden, reichte Angus das Blatt Davies.
Aus einem Grund, den sie nicht hätte darlegen können, hielt Morn den Atem an, als wäre sie sich nicht mehr sicher, wessen Kind Davies war, ihrer oder Angus’ Sohn.
Davies betrachtete den Ausdruck. Es schien, als könnte er den Text nicht lesen. Vielleicht hatte er Schwierigkeiten mit den Augen. Oder womöglich konnte er einfach nicht glauben, was er sah.
»Herrje…«, seufzte er mit gedehntem, leisem Ausatmen, als entwiche ihm die Lebenskraft. Beinahe im Zeitlupentempo wandte er sich Morn zu.
Und mit ihm drehte sich auch Angus: gemeinsam kehrten sie sich in Morns Richtung. Die Ähnlichkeit zwischen beiden war geradezu unheimlich. Davies war nicht so aufgedunsen, hatte weniger Muskeln, im Gegensatz zu Angus kaum Fett. Seine schwarze Bordmontur bildete einen augenfälligen Gegensatz zu Angus’ schmuddeligem Äußeren. Das jedoch waren zweitrangige Abweichungen. Im wesentlichen unterschieden nur Davies’ Augen – er hatte Augen wie Morn – ihn von seinem Vater.
Mit einemmal schwang Davies die Arme über den Kopf. »Jetzt haben wir ihn!« schrie er. »Da haben wir ihn!«
Verdutzt fuhr Morn zurück. Sie konnte es nicht verhindern: sein unerwarteter Ausbruch erschreckte sie wie ein Angriff. Seine Rufe klangen ihr in den Ohren nach. Einen Augenblick lang hörte sie nichts anderes. Ihr war zumute, als hätte Davies sie in Zusammenwirken mit seinem Vater taub gemacht.
Angus’ Wangen waren noch immer feucht: seinen Augen entflossen Tränen, ohne daß er es
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