Amnion 4: Chaos und Ordnung
Ausdruck geben konnte. Aber sein Vater hatte ihn, weil er gebraucht wurde, zur Tätigkeit auf dem Familienfrachter gezwungen. Und das hatte zu dem einen, kritischen Ereignis seines Lebens geführt, bei dem er sich selbst darum bemüht hatte, verschont zu bleiben.
Während ein Illegaler den Erzfrachter auflaserte, war Sib in einem EA-Anzug zwischen den Schiffsrümpfen versteckt gewesen. Damals hatte er die irre Idee gehabt, er könnte vielleicht zu einem der Geschütze gelangen und es aus der Nähe gegen den Raumpiraten einsetzen. Ein Einfall, der Nicks jetziger Idee an Verrücktheit durchaus gleichkam. Nur deshalb sitze ich jetzt hier, hatte er Morn und Davies erzählt. Nur darum bin ich noch ’n Mensch…
Meine Familie… die vielen Kumpel… sie sind also nicht ermordet worden. Anstatt daß sie sie massakrierten, injizierten sie ihnen der Reihe nach Mutagene.
Alles konnte ich mitansehen. Hätte man sie ermordet… Dann wäre ich wohl ins Raumschiff zurückgekehrt und hätte versucht, ihnen zu helfen. Vielleicht. Verzweifelt genug war ich ja… Aber ich mußte mitansehen, wie man ihnen Mutagene einspritzte. Ich habe sie gesehen… wie sie sich veränderten. Dadurch war ich wie gelähmt.
Danach hatte er nur noch geschrien. Er hatte nicht mehr aufhören können. Zum Glück hatte er vorher das Mikrofon des Helmfunks ausgeschaltet gehabt.
So war er verschont geblieben.
Er hatte geschrien, bis ihm die Stimme versagte. Dabei klammerte er sich an die doppelt unsinnige Überzeugung, er könnte, solang er die eigene Stimme hörte, nicht zum Amnion verwandelt werden, indem er bloß zuschaute, wie seine Verwandten mutierten.
Doch natürlich hatte der weitere Verlauf seines Daseins bewiesen, daß es seinen Preis hatte, verschont zu bleiben. Immer. Unausweichlich. Ein Pirat, der auf illegales Bergungsgut aus gewesen war, hatte ihn gerettet. Das war schlimm genug gewesen. Aber einige Jahre später hatte er, weil er noch immer hoffte, eines Tages seine ewige Furcht zu überwinden, sein Schicksal zu beeinflussen versucht, indem er bei Nick Succorso anheuerte.
Verbrechen um Verbrechen hatte Nick ihn jedesmal mit dem unerschütterlichen Nein zu leben gelehrt, wenn er auf Barmherzigkeit hoffte, die er nicht fand und wahrscheinlich auch nicht verdiente.
Auf gewisse Weise hatte er vielleicht, als er sich gegen Nick stellte, indem er Morn aus ihrer Kabine freiließ, darauf abgezielt, sich die Übel zu verdienen, die ihm ohnehin zustoßen sollten. Nun tat er noch einmal das gleiche. Nur war die Lage dieses Mal viel schlimmer. Diesmal half er Davies dabei, Nick durch den Zentralkorridor der Posaune zu den Wandschränken mit den EA-Anzügen zu bringen. Ein zweites Mal hatte er die Absicht, die wilde Hoffnung, wieder Menschen, die ihm etwas bedeuteten, durch Externaktivitäten zu retten. Und zwar ausgerechnet in Begleitung des Mannes, den er am meisten fürchtete, dem er am tiefsten mißtraute. Er fühlte, wie sein Körper praktisch in Entsetzen zerfloß.
Verschont mich.
Nein.
Er mußte bei seinem Vorschlag völlig ausgeklinkt gewesen sein.
»Sie ist längst so gut wie tot«, nuschelte Nick heiter vor sich hin, »und ahnt es nicht. Arme Sau.«
Davies kümmerte sich nicht um Nicks Gefasel. »Einen Moment«, sagte er, als sie das Krankenrevier passierten. Er ließ Nick los, öffnete die Tür und ging hinein. Als er herauskam, hatte er ein Skalpell in der Hand. »Zum Zerschneiden des Isolierbands«, erklärte er.
»Sie hat zum letztenmal über mich gelacht«, verhieß Nick nonchalant.
Sib und Davies gelangten, Nick zwischen sich, zu den Schränken mit den EA-Anzügen.
Anzeigelämpchen über den Wandschränken verwiesen darauf, daß sie offen waren: Angus hatte von der Brücke aus die erforderlichen Schaltungen vorgenommen. Sib und Davies bugsierten Nick vor die Schränke. Sib schwebte ein, zwei Meter zur Seite und zückte die Laserpistole, während Davies Nicks Fesseln zerschnitt.
Kaum waren seine Arme frei, hörte Nick zu faseln auf.
In wüstem Tatendrang riß er sich das restliche Isolierband von den Gliedmaßen, knüllte es zusammen und schmiß es von sich. Sofort schwebte auch Davies beiseite. Unwillkürlich faßte Sib die Pistole fester. Er konnte sie nicht ruhig halten – im Umgang mit Schußwaffen war er nie gut gewesen –, hoffte aber, daß Nick davon ausging, er könnte ihn aus diesem Abstand nicht verfehlen, egal wie sehr ihm die Hand zitterte.
Nick streckte die Arme und bog den Rücken nach hinten, bis die
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