Amnion 4: Chaos und Ordnung
nachdem, wie sich das Machtgleichgewicht verschob, zwischen Gewaltorgien und Sicherheit.
Darum gelangte ich zu der Überzeugung – und bin ihr bis heute treu geblieben –, daß alles von der Frage des Stark- oder Schwachseins abhängt. Innerhalb ihres Territoriums waren die Gossengangs stark. Allem zwangen sie ihre Form der Ordnung auf. Andernorts erwiesen sich zivilere Strukturen als widerstandsfähig genug, um ihre Ausbreitung einzudämmen. In der Zwischenzone dagegen mußte jeder leiden, weil alle zu schwach waren, um dem Chaos zu trotzen.
Hier sollte Polizei, dachte ich mir damals, präsent sein. Die Zwischenzonen brauchten Männer und Frauen, die die Macht hatten, um gegen den Konflikt Sicherheit und Ordnung durchzusetzen, und zudem genug Tugenden, um dieses Ziel zu erreichen, ohne selbst zu einer Art von Gossengang herabzusinken. Eine andere Abhilfe konnte ich mir nicht vorstellen.
In gewisser Hinsicht habe ich seitdem meinen Kampf stets im Namen der Zwischenzonen geführt. Erst in der Zwischenzone des Erdorbits, wo Raumstationen und Raumindustrie, während keine planetare Autorität irgendeinen Einfluß auf sie ausübte, um Stücke des Wohlstandskuchens und um ihre Zukunft rangen. Und später in den viel ausgedehnteren Zwischenzonen, die durch den Kontakt zu den Amnion entstanden, den interstellaren Grenzzonen, die heute überall existieren, wohin mit Ponton-Antrieb ausgerüstete Raumschiffe fliegen können.
In der Zwischenzone, in der ich aufwuchs, tat ich, was ich konnte, um die Nachbarschaft, die Familien, zum Selbstschutz zu organisieren. Ich glaube, damit habe ich versucht, den Tod, der meine Mutter und meinen Vater ereilte, von meinen Pflegeeltern fernzuhalten. Allerdings hatten wir schlichtweg keine ausreichenden Hilfsmittel. Wir waren tüchtig – wenigstens glaube ich es –, aber nicht stark.
Bei erstbester Gelegenheit ließ ich mich vom Internschutz der AM anwerben. Dabei fühlte ich mich der Astro-Montan AG als solcher keineswegs verpflichtet und betrachtete es nicht einmal als engagierenswert, durch die Erforschung des Weltalls und das Erschließen neuer Ressourcen, die die AM betrieb, zum Fortbestand der Menschheit beizutragen. Lediglich die Obliegenheit, die ich beim AM-Internschutz zu übernehmen hatte, nämlich in einem begrenzten Abschnitt der Orbitalen Zwischenzone den Schutz von AM-Managern und -Personal sowie Firmeneinrichtungen und -tätigkeiten zu garantieren, zog mich enorm an. Ich konnte von meinem Gutmenschentum, bildete ich mir ein, woanders etwas einbringen. Die Stellung beim AM-IS gab mir die Verfügungsgewalt über Mittel und Geld, Ausstattung und Leute, deren es bedurfte, um meine ›Tugenden‹ in sinnvolle Praxis umzumünzen.
Damit verrichtete ich – so weit, so gut – durchaus wertvolle Arbeit. Sie hätte mich jedoch nicht lange zufriedengestellt, hätte ich nicht Holt Fasners Ambitioniertheit erkannt. Für jemanden mit meinen Obsessionen war der herkömmliche Zuständigkeitsbereich des AM-IS ganz einfach zu beschränkt. Ich wußte, daß ich bessere Arbeit leisten konnte – viel bessere Arbeit –, wenn sie sich auf größere Gebiete erstreckte.
Holt Fasner hatte größere Träume. Er war damals dabei, seine Domäne auszudehnen, und insofern erweiterte sich auch meine Zuständigkeit mit wahrhaft aufregender Schnelligkeit. Außerdem war er da schon alt. Vielleicht lag es daran, daß er bei mir – dies Eingeständnis klingt unglaublich naiv, sogar wenn ich es nur mir selbst mache das Gefühl erweckte, er sei ein kluger Mann. Auf alle Fälle vermittelte seine gründliche Kenntnis aller Nutzanwendungen der Macht mir den Eindruck von Weisheit.
Und während meiner ersten Jahre beim AM-IS blieb ich trotz einer Reihe recht zügiger Beförderungen noch zum unteren Mitarbeiterkreis gehörig. Holt Fasner vertraute mir zuwenig, um mich in die Motive seiner Entscheidungen einzuweihen. Soweit ich es feststellen konnte, war der IS eine anständige, saubere Truppe. Alle unsere Handlungen hatten den Anschein vollkommener Rechtmäßigkeit.
Schließlich rief mein neues, künstliches Auge bei mir eine Art von Überheblichkeit hervor. Oder vielleicht rückte es nur eine mir längst innewohnende Hybris in den Vordergrund meines Charakters. Die IR-Sicht ermöglichte es mir, Menschen so genau zu ›durchschauen‹, daß ich mich allmählich für unfehlbar hielt. Für einen fehlerfreien Gutachter der Wahrheit.
Ich war jung und hatte noch Schwung. Heute beschämt es mich, es zuzugeben,
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