Amnion 4: Chaos und Ordnung
wie nach der Vernichtung der Stellar Regent erfüllte sie, und sie vermochte sich nicht zu rühren.
Mit der Kaltstartmethode kannte sie sich aus. Manche Raumer hatten die dafür erforderliche Technik. Dabei trat starke, aber nicht unerträgliche Beschleunigung auf; bei einem Kaltstart entwickelte der Pulsator-Antrieb der Posaune zuwenig Schubkraft, um sie und Davies über die physischen Grenzen hinaus zu belasten. Sie hatten unter starker G-Belastung trainiert: dergleichen konnten sie aushalten. Falls nicht Klarheit und Irrsinn Morn überwältigte…
Dagegen stellte die Kursextrapolation sie vor ein ganz anderes, ein unlösbares Problem. Die Stärke des durch die Posaune erzeugbaren Schubs, die Nähe der Sturmvogel und der überhaupt durch den Asteroidenschwarm mögliche Kurs hatten den von Morn programmierten Kurs bestimmt. Es gab, was die Flugroute betraf, keine Alternative.
Wenn sich die Posaune von dem Asteroiden entfernte und beidrehte, würde sie – mußte sie – direkt auf die Freistaat Eden zufliegen.
Davies’ Finger flitzten über die Tastatur, hämmerten ein unermüdliches Stakkato. Zielerfassungsgrafiken hüpften über die Displays; die Scanninginstrumente versuchten die Überbleibsel des Partikelsturms zu durchdringen. Die Freistaat Eden wurde deutlicher erkennbar, nahm eine verhängnisvolle Konkretheit an. Welches der beiden Schiffe eine Kollision überstünde, lag auf der Hand. Und zudem hatte die Freistaat Eden die Möglichkeit, jederzeit aus Kernschußweite zu feuern…
Morn sah keine Alternative. Der Steuerungscomputer präsentierte keine andere Option. Flog die Posaune nicht in diese Richtung, konnte sie nirgendwo hinfliegen.
Aus der Interkom rasselte und röchelte Angus’ heisere Atmung, als läge er im Sterben.
Hilf mir, verdammt noch mal! wollte Morn ihm zuschreien. Sag mir, was ich anfangen soll! Doch sie bezweifelte, daß Angus dazu in der Verfassung war, sie zu hören.
Da packte eine andere Furcht sie.
Was geschah, wenn die Posaune wirklich diesen Kurs einschlug? Wenn sie die Konfrontation überstand? Was sollte dann werden?
Morn konnte nicht über die akute Krise hinausdenken. Jenseits der Kursextrapolation existierte für sie ausschließlich Finsternis: gab es nichts als Asteroiden und Kollisionen; leere Scanningschirme und Blindflug; Hoch-G, Bewußtlosigkeit und Hyperspatium-Syndrom. Sie hatte sich, anders als Angus, nicht mit Deaner Beckmanns Asteroidenschwarm-Kartenwerk oder den vom inzwischen total vernichteten Schwarzlabor übermittelten Flugverkehrsinformationen vertraut gemacht. Sie wußte nicht, wie sie sich außer dem Unheil, das die Kursextrapolation vor ihren Augen ankündete, noch irgend etwas anderes vorstellen sollte.
Aber falls sie versagte, war der Interspatium-Scout zum Untergang und alle Menschen an Bord zum Tode verurteilt; falls die Posaune den Zangenangriff der Sturmvogel und der Freistaat Eden überstand und Morn für das Nachfolgende nicht vorausgeplant hatte, wäre alles vergeblich gewesen.
Und sie hatte schon das Raumschiff ihres Vaters vernichtet und den Großteil ihrer Familie ausgelöscht. Sie bebte vor Furcht, während sie die vorgesehenen Kaltstartprotokolle der Posaune aus dem Hauptcomputer ins Steuerungsprogram kopierte, damit diese Voraussetzungen automatisch abliefen. Danach stellte sie die Korrektursteuerung darauf ein, das Schiff zu bremsen oder zu stoppen, falls der einprogrammierte Kurs zu einer Gefährdung führte.
Morn hatte keine Ahnung, welche sonstigen Maßnahmen sie ergreifen könnte.
»Ach du Schande, Morn…!« Auf einmal schaltete Davies sein Mikrofon ab, so daß Angus ihn nicht mehr hörte, und drehte das Kontrollpult ein Stück weit in ihre Richtung. »Weißt du, was er macht?«
Morn schüttelte den Kopf. Die vorherberechnete Kursextrapolation hielt sie in ihrem Bann, und vielleicht stand ihr längst das Herz still. Sie konnte sich nicht im mindesten ausmalen, welche Absicht Angus verfolgte.
»Er hat eine der Singularitätsgranaten an sich gebracht«, sagte Davies halblaut; voller Bewunderung oder Betroffenheit. »Offenbar will er sie manuell einsetzen. Er glaubt, er kann eines der beiden Schiffe in ’n Schwarzes Loch stürzen. Mein Gott, anscheinend hat er vor, mit dem Ding nach einem der Schiffe zu werfen.«
Daß er damit eine Erfolgsaussicht hatte, war denkbar; es hätte jedoch nur dann Zweck gehabt, wäre die Posaune dem Angriff nur eines Gegners ausgeliefert gewesen. Und wenn es ihm dank irgendeines Wunders gelang,
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