Amok: Thriller (German Edition)
Die berauschende Mischung aus Angst und triumphalem Hochgefühl war in seiner Erinnerung jetzt, ein Vierteljahrhundert später, noch genauso lebendig wie damals. Für einen kurzen Augenblick hatte er wahrhaft übermenschliche Kräfte entwickelt, war zu allem fähig.
Dann schlug er die Augen auf und erkannte, dass er nicht in Leeds war. Er war auch nicht mehr dreizehn. Und er war auch nicht im Begriff, sich den Weg in die Freiheit zu erkämpfen.
Diesmal wurde das Pochen in seiner Kopfwunde überlagert von Schmerzen in beiden Armen, so höllisch, dass sie ihm fast den Atem raubten. Er blinzelte hektisch, um klarer sehen zu können, doch auch nachdem er seine Arme eine halbe Ewigkeit lang angestarrt hatte, konnte er noch immer nicht begreifen, was er da sah.
Er hatte keine Hände mehr.
63
Craig sah erst wieder auf sein Handy, als er im Zug zurück nach Sussex saß, am Ende eines langen, aufreibenden Tages. Als der Imbisswagen vorbeikam, dachte er, dass er noch nie in seinem ganzen Leben so dringend ein Bier gebraucht hatte wie jetzt. Er musste seine ganze Willenskraft aufbieten, um den Kopf zu schütteln und den Wagen passieren zu lassen.
Er hörte Julias Nachricht ab und sah auf die Uhr. Es war schon nach halb sieben, wahrscheinlich zu spät, um sie zurückzurufen. Ohnehin war er nicht in der Stimmung, über Alice Jones und ihre Exklusivstory in der Boulevardpresse zu diskutieren. Abby Clark war tot, und es war seine Schuld.
Nach seinem Treffen mit Sullivan hatte er Abbys Partnerin Marie aufgesucht. Verschiedene Gründe hatten ihn dazu bewogen: Er wollte ihr seine Unterstützung anbieten, aber auch herausfinden, ob sie sonst noch irgendetwas wusste, was helfen könnte, Abby zu finden; und er wollte ihr versichern, dass er und Abby nie eine Affäre gehabt hatten. Er war seit etwa einer Stunde dort – sie saßen gerade beim Tee und versuchten sich gegenseitig Trost zu spenden -, als die Polizei mit der Nachricht eintraf, die sie beide gefürchtet hatten. Die Leiche einer Frau war aus der Themse geborgen worden, und man nahm an, dass es sich um Abby handelte.
Bis zu diesem Moment hatte Marie sich nach Kräften bemüht, die Fassung zu bewahren. Jetzt brach sie vor seinen Augen zusammen. Als der Polizist fragte, ob sie in der Lage sei, die Tote zu identifizieren, erbot sich Craig, sie zu begleiten. In der Leichenhalle konnte er in Erfahrung bringen, dass die Todesursache noch nicht genau feststand. Die Leiche zeigte Spuren von Gewalteinwirkung, doch es war nicht klar, ob die Verletzungen Abby von einem Angreifer beigebracht worden waren oder ob sie im Wasser mit etwas zusammengestoßen war. Nach der Obduktion würden sie mehr wissen.
Er kehrte mit Marie in ihre Wohnung zurück und saß bei ihr, während sie eine Reihe schwieriger Anrufe bei Abbys Verwandten und Freunden hinter sich brachte. Erst als er zur U-Bahn zurückging, emotional ausgelaugt und voller Zorn, gestattete er sich, die Worte im Kopf auszusprechen: Abby war ermordet worden.
Und er war zudem überzeugt, dass der Mörder entweder James Vilner war oder dieser andere Mann, Kendrick. Einer der beiden hatte das Massaker von Chilton organisiert, vielleicht auch beide gemeinsam, und zwar mit ziemlicher Sicherheit im Auftrag von George Matheson. Abby hatte sterben müssen, weil sie getan hatte, worum Craig sie gebeten hatte. Weil sie der Wahrheit zu nahe gekommen war.
Das allein war fast schon unerträglich. Und was es noch schlimmer machte, war, dass er nichts davon beweisen konnte.
Vilner starrte und starrte. Immer wieder verschwamm das Bild vor seinen Augen, und er versuchte instinktiv die Arme zu heben, konnte sie jedoch keinen Millimeter bewegen. Er blinzelte und starrte, blinzelte und starrte, doch so oft er es auch wiederholte, das Ergebnis war immer das gleiche. Seine beiden Hände waren nicht mehr da.
»Du hast mich nie für voll genommen, nicht wahr?«, sagte eine Stimme. Erst jetzt merkte er, dass er nicht allein im Zimmer war. Er hob mühsam den Kopf und sah vor sich eine Gestalt in einem Arbeitsanzug, der aussah wie mit roter Farbe bespritzt.
»Ich dachte mir, ich mache lieber von Anfang an klar, dass ich nichts von halben Sachen halte«, fuhr der Mann fort. »Obwohl das nach dem, was ich in Chilton gemacht habe, eigentlich schon hätte klar sein müssen.«
Der Mann hielt inne – vielleicht erwartete er eine Antwort, aber Vilners Gehirn konnte die Worte nicht verarbeiten. Sie drangen an seine Ohren, als riefe jemand durch einen
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