Amokspiel
starrte auf den TV-Monitor.
Ein verschwommenes Digitalfoto belegte fast die gesamte Mattscheibe mit Beschlag. Es sah aus wie eine PaparazziAufnahme. Die schwangere Frau darauf schien nicht zu ahnen, dass sie beim Einkaufen in einem spanischen Supermarkt fotografiert wurde.
»Das ist Leoni, vermutlich im achten Monat«, klärte Marius sie auf. »Wir haben es von der Festplatte eines ranghohen Staatsanwaltes gesichert. Johannes Faust.«
»Wie sind Sie da rangekommen?«, fragte Ira verblüfft. »Das ist nicht die zweite Information, die Sie erhalten werden, Frau Samin. Aber die ist auch lange nicht so interessant wie das, was ich Ihnen jetzt gleich sagen werde.« Schuwalow griff nach ihrem Kinn und hielt es schmerzhaft fest, umschlossen zwischen Daumen und Zeigefinger. Seine nächsten Worte betonte er, als wäre er der amerikanische Präsident bei einer Ansprache an die Nation: »Leoni Gregor ist meine Tochter!«
2.
Ira war so perplex, dass sie für einen Augenblick ihre Übelkeit vergaß. Diese letzte Aussage war für sie fast noch unvorstellbarer als die gesamte Situation, in der sie gefangen war.
»Ich habe Leoni schon seit fast zwei Jahren nicht mehr gesehen«, erklärte Schuwalow weiter. »Sie verschwand kurz nach meinem sechsundfünfzigsten Geburtstag. Bei unserer letzten Familienzusammenkunft hieß sie übrigens noch Feodora.«
Feodora Schuwalow. Ira erinnerte sich an die blutjunge Ukrainerin, deren Gesicht einst die Seiten der Modemagazine füllte. Sie war Fotomodell, und ihre verwandtschaftliche Nähe zur Mafia machte sie für die Klatschpresse erst richtig interessant. Vor zwei Jahren verschwand sie plötzlich von der Bildfläche. Die Rede war von einer seltenen Krankheit, die sie ans Bett fesselte. Die Spekulationen reichten von multipler Sklerose bis Aids. Von einem Tag auf den anderen wurde sie nie wieder in der Öffentlichkeit gesehen. Und bis heute hatte sich das nicht geändert. Denn, soweit sich Ira erinnern konnte, besaß Feodoras Gesicht nur eine entfernte Ähnlichkeit mit dem von Leoni Gregor.
»Sie hat sich einer oder mehreren Gesichtsoperationen unterzogen«, erläuterte Marius. »Warum das?«
»Nun, sicher nicht aus kosmetischen Gründen. Schön war sie ja schon vorher.«
»Worauf wollen Sie hinaus?« Ira wollte ihrem zukünftigen Mörder eigentlich eine längere Verwünschung an den Kopf donnern, aber jedes Wort bereitete ihr Schmerzen.
»Liebe Frau Samin, auch Sie haben ja Ihre leidvolle Erfahrung mit Familienproblemen machen müssen, wie ich heute im Radio erfahren durfte. Es wird Sie nicht überraschen, dass so etwas in den besten Häusern vorkommt. So auch in meinem.«
»Feodora ist von zu Hause abgehauen?«
»So könnte man es auch nennen. Wir haben uns gestritten. Sie wissen ja, wie das ist. Aus einem kleinen Riss entwickelt sich ein tiefer Graben, der von beiden Seiten unüberwindbar erscheint. Unser Vater-Tochter-Verhältnis war von jeher angespannt. Sagen wir, wir hatten Differenzen, was die Methoden der Geschäftsführung meines Familienunternehmens anbelangt.«
»Ach, wollte sie die Säurefässer nicht mehr umrühren?«, fragte Ira und rieb sich ihre Augen. »Sie wollte gegen mich aussagen.« Marius ließ die bedeutungsschweren Worte eine Weile in der Luft hängen, bevor er nachlegte: »Faust hatte sie als Hauptbelastungszeugin für die Anklage rekrutiert.«
»Und da ließen Sie sie verschwinden.« Iras Hände verkrampften sich an der Thekenkante. »Sie haben Ihre eigene Tochter ermordet!«
»Falsch.« Marius machte eine verächtliche Handbewegung, als wolle er einen lästigen Kellner abwimmeln. »Ich wünschte, es wäre so. Aber Leoni hat mich verraten: Sie lief über. Meine Tochter befindet sich in dieser Sekunde in einem Zeugenschutzprogramm.«
3.
Langsam ergab alles einen Sinn. Warum Leoni so verschlossen gewesen war, selbst Jan gegenüber. Weshalb sie spurlos verschwand. Und wieso Jan sie niemals finden konnte. Marius machte eine lange Pause. Als wäre sein letzter Satz ein Schluck Wein, den man gebührend auskosten musste, bevor man nachschenkt. Vielleicht ergötzte er sich auch einfach nur an Iras geschocktem Gesicht.
»Genau genommen war Leoni schon im Zeugenschutz, als sie Jan kennen lernte«, fuhr er fort. »Ihr Gesicht war bereits verändert. Faust hatte ihr einen neuen Namen verpasst. Eine komplett neue Identität. Unser karrieresüchtiger Oberstaatsanwalt unternahm die letzten Jahre einfach alles, um seinen Prozess zu retten«, löste Schuwalow das
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