Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
Großvater ist lange tot.
Ich nehme die Blumen in die Hand und steige über breite Stufen hoch zum Plateau mit dem Mahnmal. Von oben lässt sich die Gegend besser überblicken. Das Gelände wirkt verlassen und ungepflegt. Ohne die Hinweisschilder ließe sich nicht erahnen, welche Gräueltaten hier vor vielen Jahren stattgefunden haben.
Jogger laufen durch den Nieselregen, in der Ferne entdecke ich Spaziergänger mit Hunden. Sie laufen hier wahrscheinlich Tag für Tag entlang, freuen sich, dass es diese Grünfläche gibt.
Ganz allein stehe ich vor dem Mahnmal. Um diese Jahreszeit kommen nur wenige Menschen hierher.
Ehrfürchtig berühre ich den kalten Stein mit der Hand, so wie ich es in Jerusalem an der Klagemauer getan habe.
In den letzten Monaten war ich mir manchmal nicht mehr sicher: Wer bin ich? Bin ich Jennifer, oder bin ich nur noch Jennifer, die Enkelin von Amon Göth? Was zählt in meinem Leben?
Ich kann die Geschichte meines Großvaters nicht einfach in eine Schublade packen, sie zumachen und sagen: Es ist vorbei, es betrifft mich nicht mehr. Das wäre ein Verrat an den Opfern.
Ich komme hierher wie an ein Grab. Ein Grab ist ein Ort, den man pflegt und an den man zurückkehrt, um die Verstorbenen zu ehren.
Wenn jemand stirbt, ist es auch nicht unbedingt erforderlich, zur Beerdigung zu gehen. Man kann sich auch innerlich verabschieden. Aber der Gang zum Grab ist ein Zeichen, ein wichtiges Ritual, das ich nun nachholen will. Ich möchte den Opfern meinen Respekt erweisen. Deutlich machen, dass ich sie nicht vergessen werde.
Langsam lege ich die Blumen nieder. Danach setze ich mich auf die Wiese. Erst jetzt bemerke ich, dass sich vor dem Mahnmal Menschen versammelt haben. Kinder laufen über die Wiese. Eine israelische Schulklasse. Ich lausche, es klingt vertraut.
Das Mahnmal für das Lager Płaszów
Die Frau des Kommandanten: Die Großmutter Ruth Irene Kalder
Es war eine schöne Zeit. Mein Göth war König,
ich war Königin. Wer würde sich das nicht gefallen lassen?
(Ruth Irene Göth 1975 über ihre Zeit an der Seite des KZ -Kommandanten Amon Göth)
Was wusste meine Großmutter?
Vor dem Besuch in der Villa hatte ich mir eingeredet, dass sie vieles nicht mitbekam.
Vor Krakau dachte ich an ein weitläufiges Gelände, ein riesiges Haus: der Abstand zu den Schüssen im Lager zu groß, die Schreie der von meinem Großvater drangsalierten Dienstmädchen zu leise.
Aber so war es nicht. Meine Großmutter war mittendrin. Die Villa war klein, das Lager nicht weit.
War meine Großmutter nicht nur blind vor Liebe, sondern auch taub?
Wo war ihr Mitgefühl? Ein paar Hundert Meter weiter starben die Menschen, und sie feierte Feste mit Amon Göth.
Mein Großvater ist lange tot. Doch meine Großmutter habe ich noch kennengelernt. Sie war der Mensch, der mir als kleines Kind am wichtigsten war – ich hatte nur wenig, an das ich mich klammern konnte. Sie mochte mich, das war schon viel.
Für mich strahlte sie Güte aus. Wenn ich an sie denke, ist da sofort ein schönes, vertrautes Gefühl.
Und dann erfahre ich aus dem Buch über meine Mutter Dinge von meiner Großmutter, die meinem Bild von ihr in so vielem widersprechen.
Wäre sie nicht gewesen, hätte mich die Person Amon Göths vielleicht gar nicht so verstört. Ich hätte ihn stärker als historische Figur sehen und distanzierter betrachten können. Ja, er ist mein Großvater. Aber er hat mich nie im Kinderwagen geschaukelt und nie meine Hand genommen. Das hat meine Großmutter getan.
Sie ist mir so nah, und deshalb kann ich auch das monströse Bild des Amon Göth nicht einfach wegschieben auf irgendeinen Platz in der Geschichte.
In der Literatur über die Nachfahren von Nationalsozialisten wird manchmal unterschieden zwischen denjenigen, die ihre Verwandten noch kennengelernt haben – und denen, die sie nicht mehr erlebt haben. Einige Autoren schlussfolgern: Wer einen NS -Vorfahren nicht persönlich kannte, der leidet auch nicht so stark unter seiner Herkunft. Dabei wird vergessen, dass die später Geborenen häufig noch die Menschen kannten, die den Nazi-Verbrecher liebten. Die Lebenden sind das Bindeglied zu den Toten.
Meine Mutter war ein zehn Monate altes Baby, als Amon Göth gehängt wurde. Dennoch spricht aus dem Buch über sie ein großes Leiden an diesem Vater. Sie hat dieselbe Verbindung zu ihm wie ich: Ruth Irene, ihre Mutter, meine Großmutter. Die Frau, über deren Bett das Foto Amon Göths hing bis zu ihrem Tode. Er war der
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