Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
Jennifer Teege wieder bei ihren Adoptiveltern in Waldtrudering.
Ihr Adoptivvater Gerhard geht mit Jennifer Teeges Söhnen durch den Garten: Er hat für die beiden je einen «Lebensbaum» in den Garten gepflanzt, einen Gingko-Baum für Claudius und einen Apfelbaum für Linus. Jetzt führt er die Enkel zu ihren neu gepflanzten Bäumchen. «Opa, gleich treffen wir die Mama von Mama», sagt Jennifer Teeges jüngerer Sohn Linus zu ihm.
Als Jennifer Teege, ihr Mann und ihre Söhne aufbrechen, winken die Adoptiveltern ihnen nach.
*
Ich freue mich auf das nächste Treffen mit meiner Mutter, diesmal mit Charlotte, meinem Mann und unseren Kindern. Ein Familientreffen am Karfreitag. Meine Familie: Es fühlt sich authentisch an, wenn ich das sage.
Ich wünsche mir mehr Leichtigkeit in unseren Beziehungen. Ich hoffe, dass wir über den Punkt hinauskommen, an dem wir nur unsere Vergangenheit und die meiner Großeltern aufarbeiten. Es wäre schön, wenn wir einfach mal so etwas miteinander unternehmen würden.
Zu Charlotte habe ich einmal mit einem leichten Schmunzeln gesagt: «Vielleicht sitzen wir eines Tages alle gemeinsam unterm Weihnachtsbaum.» Ich denke nicht, dass es so kommt. Ich habe meine Adoptivfamilie, die bleibt mir. Aber es wäre schön, wenn auch meine Mutter und Charlotte Teil meines Lebens würden.
Meine Mutter hat nun eine große Chance: nach all den Jahren eine Tochter zurückzubekommen.
Es war interessant, allein mit meiner Mutter zu sprechen, ich habe so vieles über sie und meine Großmutter erfahren. Auch Puzzleteilchen, die mir in meiner Biographie noch fehlten, kann ich nun einfügen.
Manche Dinge wusste ich schon aus dem Buch über sie, aber jetzt gab es in ihrer Geschichte eine zusätzliche Protagonistin: mich. Es hat mich sehr verletzt, dass sie mich im Buch nicht erwähnt hat. Sie sagt, sie tat es zu meinem Schutz – um mir ein neues Leben zu ermöglichen.
Sie ist kein Typ, der sich selbst in Frage stellen würde, dazu lebt sie zu sehr in ihrer Welt. Oft wirkt sie spröde, sagt Dinge, die harsch und absolut klingen – aber ich glaube, dahinter steckt eine liebenswerte und liebesbedürftige Frau.
Ich sehe, welchen Weg sie gegangen ist: Immer wieder war sie psychisch am Boden, sie hat eine schreckliche erste Ehe hinter sich – und jetzt führt sie ein fast normales Leben. Ich denke, sie lässt viele Dinge nicht so nah an sich heran, um sich zu schützen.
Mein Mann hält vor dem verabredeten Restaurant an, wir steigen aus. Charlotte kommt, sie sieht erschöpft aus. Sie sieht den Goldreif an meinem Arm. Ich erzähle: Unsere Mutter hat ihn mir geschenkt, er ist noch von Irene. Charlotte blickt auf den Armreif und sagt nichts.
Meine Mutter und Dieter kommen dazu, wir essen alle zusammen, danach gehen wir im Englischen Garten spazieren. Wir rudern auf dem Kleinhesseloher See, anschließend gehen wir mit den Kindern auf den Spielplatz.
Nach außen ist es ein normales Treffen, aber ich finde es doch sehr distanziert. Ich hätte es mir noch persönlicher gewünscht, herzlicher. Ich hatte gehofft, nicht nur eine ältere Frau kennenzulernen, sondern eine Mutter. Nach dem ersten Wiedersehen dachte ich noch, das geht. Jetzt bin ich realistischer, ich habe gespürt: Meine Mutter ersehnt sich keine so innige Beziehung wie ich. Das liegt auch in ihrer Persönlichkeit begründet, ihre mütterliche Seite ist nicht so stark ausgeprägt.
Ich bin jetzt vierzig, sie ist siebenundsechzig. Ich bin zu alt, sie kann mir nicht noch einmal die Flasche geben und mir bei den ersten Schritten helfen. Alles, was sie verpasst hat, was wir beide verpasst haben – es lässt sich jetzt nicht mehr nachholen.
Noch einmal sehe ich meine Mutter, vier Tage nach unserer Begegnung am Karfreitag. Wir treffen uns am Grab meiner Großmutter.
Ich habe sie gebeten, mir Irenes Grabstätte zu zeigen. Es war mir ein Bedürfnis, mit ihr gemeinsam dorthin zu gehen. Wir verabreden uns am Münchner Viktualienmarkt. Ich kaufe Blumen, dann fahren wir zum Nordfriedhof. Meine Mutter besucht das Grab regelmäßig. Es scheint, als hätte sie jetzt Frieden mit ihrer Mutter geschlossen.
Wir gehen durch das Tor. Der Friedhof ist sehr groß. Überall stehen hohe alte Bäume, schmale Wege führen zu den Gräbern. Irene ist gemeinsam mit ihrer Mutter Agnes Kalder begraben. Es ist ein schönes Grab, ganz schlicht. Meine Mutter und ich pflanzen gemeinsam Stiefmütterchen. Dieser Besuch ist so wichtig für mich. Vor dem Grab von Irene bitte ich meine
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