Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
Fragen nach meinem Großvater. Ich habe lange für sie gebraucht.»
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Ich glaube nicht, dass man sich ganz frei machen kann von der Vergangenheit, sie wirkt in uns Nachkommen weiter nach, ob wir wollen oder nicht.
Ich habe die Biographien vieler Nazi-Nachfahren studiert. Die dritte Generation leugnet die Geschehnisse im «Dritten Reich» nicht mehr, sie benennt deutlich, was war. Trotzdem fehlt einigen dieser Erzählungen etwas: Die Menschen verschwinden hinter den Fakten, sie bleiben mir fremd. Die Auseinandersetzungen der Nachkommen mit ihrer Familiengeschichte sind mir oft zu theoretisch, ich kann mich damit nur schwer identifizieren.
Denn die Beschäftigung mit den Taten der Vorfahren, sie ist keine akademische Auseinandersetzung. Sie zerstört Familien.
Die Vergangenheit wird auch weiterwirken in meinen Kindern. Meine beiden Söhne sind noch jung. In ein paar Jahren werden sie vielleicht mit ihrer Klasse den Film «Schindlers Liste» sehen. Sie sollen sich dann nicht schämen müssen, sondern werden hoffentlich offen über ihre Familiengeschichte sprechen.
Ich glaube, wir können nur dann mit der Vergangenheit fertig werden und sie auch irgendwann hinter uns lassen, wenn wir offen mit ihr umgehen. Denn wer das Gefühl hat, sich und seine Identität verstecken zu müssen, wird krank.
Das ist der Grund, warum ich so erschüttert war, als ich erfuhr, was meine Mutter vor mir verborgen hatte: Das Familiengeheimnis, das ihre Kindheit und Jugend, ihr ganzes Leben überschattet hat – sie ließ auch mich damit aufwachsen. Ich habe viel zu spät davon erfahren.
Ich wünsche mir, dass sie meine innere Not erkennt. Dass sie nachempfinden kann, welche Traurigkeit mich all die Jahre begleitete und wie erleichternd es gewesen wäre, die Geschichte meiner leiblichen Familie zu kennen.
Meine Mutter und ich haben jetzt schon über zwei Stunden miteinander gesprochen – und immer noch nicht über uns. Behutsam versuche ich, sie von der Holocaust-Thematik wegzulenken, und frage sie nach meiner Kindheit.
Meine Mutter erzählt mir, dass sie, als sie mit mir schwanger war, wieder bei meiner Großmutter Irene lebte. Die beiden Frauen hätten darüber nachgedacht, ob ich mit ihnen gemeinsam in der Wohnung aufwachsen könnte. Das Heim sei nur als Übergangslösung gedacht gewesen, sagt meine Mutter.
Als ich dann auf der Welt war, sei es ihr schwergefallen, eine Beziehung zu mir aufzubauen. Meine Großmutter sei dagegen sofort begeistert von mir gewesen, sie betonte immer wieder, was für ein braves und pflegeleichtes Enkelkind ich sei. Nie schrie oder quengelte ich. Meine Großmutter liebte es, mit mir spazieren oder einkaufen zu gehen, erzählt meine Mutter. Irene war ohnehin eine auffällige Erscheinung, dazu dann noch ein schwarzes Enkelkind an der Hand: Sie habe mich vorgezeigt wie ein Püppchen, das Exotische gefiel ihr. Auch Lulu, der Transvestit, an den meine Großmutter ein Zimmer untervermietet hatte, fuhr mich stolz im Kinderwagen durch den Englischen Garten.
Erstmals erfahre ich von meiner Mutter auch etwas über die Bedeutung meiner Vornamen: Ich heiße Jennifer Annette Susanne. «Jennifer» kam aus der Nachkriegszeit der amerikanischen Besatzer. Meine Mutter mochte den ausländischen Klang.
«Annette» schlug meine Großmutter vor. Sie fand es einfach einen sehr schönen Namen.
«Susanne» sollte an die Susanna aus Płaszów erinnern: Weil Amon Göth zwei Hausmädchen hatte, die denselben Vornamen trugen, Helen Hirsch und Helen Rosenzweig, nannte er Helen Hirsch «Lena» und Helen Rosenzweig «Susanna».
Meine Großmutter hat nach dem Krieg immer wieder von ihren Hausmädchen in Płaszów erzählt. Als Kind glaubte meine Mutter, «Lena» und «Susanna» seien so etwas wie Verwandte. Dass für die beiden der Aufenthalt in der Villa meines Großvaters die schrecklichste Zeit ihres Lebens war, erfuhr meine Mutter erst viel später.
Ich bin also mit meinem dritten Namen nach einer jüdischen KZ -Überlebenden benannt. Nach der Frau, deren Treffen mit meiner Mutter in Krakau ich im Dokumentarfilm so aufmerksam verfolgt habe und deren Schicksal mich sehr bewegt hat.
Ich frage meine Mutter auch nach der Adoption. Sie erzählt, als ich irgendwann gesagt hätte, ich wolle so heißen wie meine Brüder, wäre sie das erste Mal auf den Gedanken gekommen, mich von den Siebers adoptieren zu lassen. Sie hätte das Ganze mit meiner Großmutter Irene besprochen, und die meinte: «Ja, warum nicht, ich war ja bei der
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