Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
zu erklären. Wenn jemand das Verb «liegen» nicht verstand, legte sie sich aufs Pult. Es dauerte nicht allzu lange, dann konnte ich einfachen Unterhaltungen folgen. Aber ich traute mich lange nicht zu reden. Immer wieder brachte mich die neue Sprache mit ihrer schwierigen Grammatik zur Verzweiflung.
Ich suchte mir ein eigenes Zimmer. Mit Tzahi, einem Schauspieler, zog ich in eine Drei-Zimmer-Wohnung an der Engel-Straße. Tzahi war damals im Beruf noch nicht so erfolgreich, bei den Frauen jedoch sehr beliebt. Er war Mitte dreißig, blond, attraktiv und intelligent. Viele dachten, wir seien ein Paar, aber Tzahi war wie ein Bruder für mich. Oft kochten wir zusammen und spielten beim Abwaschen Hauptstadtraten. Wir hatten wechselnde Mitbewohner, aber Tzahi und ich bildeten den harten Kern.
Nachdem ich den Sprachkurs absolviert hatte, bewarb ich mich an der Tel Aviv University für die Fächer «Middle Eastern Studies» und «African Studies». Als das Schreiben mit der Zulassung im Briefkasten lag, fiel mir ein Stein vom Herzen. Vorher war meine Zukunft ungewiss, nun hatte sie sich entschieden: Ich würde in Israel studieren!
In den Vorlesungen saß ich mit Israelis. Die Professoren sprachen Hebräisch, anfangs verstand ich kaum etwas und verwendete viel Zeit darauf, die Lehrinhalte später nachzulesen. Die Klausuren durfte ich auf Englisch schreiben. Für «Middle Eastern Studies» lernte ich auch Arabisch und übersetzte aus dem Koran. Oft saß ich bis Mitternacht an meinem schlecht beleuchteten Schreibtisch, den Kopf über die Bücher gebeugt.
Ich fand einen neuen Freund, Elias. Im Arabischkurs saß er hinter mir und starrte mich die ganze Zeit an. Als wir uns dann in einer Pause unterhielten, verstanden wir uns sofort. Bald gab ich ihm die Schlüssel zu meiner Wohnung. Ich versuchte, Shimon zu vergessen, aber es gelang mir nicht.
In der wenigen Zeit, die mir neben dem Studium blieb, traf ich mich oft mit Noa und Anat. Mit Anat verband mich nun ebenfalls eine enge Freundschaft. Sie war einfach da, mit ihrer leisen, fürsorglichen Art. Einmal war ich in den Sinai gereist, hatte bei den Beduinen in der Wüste Tee getrunken und mir eine schwere Infektion zugezogen. Zurück in Israel, musste ich für mehrere Tage ins Krankenhaus. Als ich entlassen wurde, war ich immer noch geschwächt und fieberte. Anat kam und setzte sich zu mir ans Bett. Dann begann sie, eine Hühnersuppe für mich zu kochen. Stundenlang stand sie am Herd.
Ich bewundere Anat für ihre bescheidene, anspruchslose Art zu leben. Sie zog später zu ihrer Jugendliebe Alon in den Kibbuz nahe Eilat, in dem ich es nur so kurz ausgehalten hatte. Heute arbeitet Anat als Krankenschwester. Ich kann mir keinen besseren Beruf für sie vorstellen.
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Anat erzählt, sie sei stundenlang mit Jennifer durch Tel Aviv gelaufen: «Wir redeten – über die israelische Politik, über die israelischen Männer. Ich zog dann meist meine Plateauschuhe an, weil ich so klein bin und Jennifer so riesig. Wir fielen auf, wenn wir zusammen unterwegs waren.» Wenn die beiden am Strand entlanggingen, sei Jennifer ständig angesprochen worden: «Manche wollten wissen, ob sie Profi-Basketballerin sei. Oft kamen Model-Scouts und wollten sie für irgendwelche Fotoproduktionen buchen. Aber sie antwortete: Nein, ich studiere», erinnert sich Anat. «Sie war nie eins dieser netten, unbedarften Mädchen. Sie war sehr selbständig und schien zu wissen, was sie wollte. Oft wandten sich Menschen, die selber Probleme hatten, deshalb an sie und baten sie um Hilfe.»
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Ich verbrachte viel Zeit im Goethe-Institut in Tel Aviv. Deutsche Zeitungen gab es damals noch nicht im Internet. Ich lieh mir stapelweise Bücher aus, las Literatur über den Holocaust, den Zionismus und den Nahostkonflikt. Bald kannte mich jeder im Institut. Schließlich bot man mir eine Halbtagsstelle in der Bibliothek an. Von da an arbeitete ich immer vormittags dort, nachmittags war ich an der Uni.
Ins Goethe-Institut kamen vor allem jüngere Israelis, um dort Deutschkurse zu besuchen. Aber auch ältere Menschen: Holocaust-Überlebende, die wieder Deutsch lesen und hören wollten. Sie erzählten nicht, was sie durchgemacht hatten. Aber ich sah die eintätowierten Nummern auf ihren Armen. Anfangs war ich befangen und hatte das Gefühl, ich müsse mich dafür entschuldigen, dass ich Deutsche bin.
Meine Hautfarbe war eine gute Tarnung: Die meisten Besucher des Goethe-Instituts dachten zunächst, ich sei Amerikanerin oder
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