Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
Vordergrund. Während meines Studiums wurde die Apartheid in Südafrika abgeschafft. Da ich auch Afrikanistik studierte, war das für mich ein wichtiges Thema.
In meinem «Middle Eastern»- Studium ging es um die Konflikte im Nahen und Mittleren Osten. Anders als viele meiner Kommilitonen fuhr ich regelmäßig in die besetzten Gebiete, ins Westjordanland und in den Gazastreifen. Ich wollte nicht nur in Vorlesungen von israelischen Professoren hören, wie es den Palästinensern ging, sondern vor Ort mit den Menschen sprechen, um ihre Situation realistisch einschätzen zu können.
Nach Gaza kam ich zum ersten Mal mit einer Freundin, die dort für eine Hilfsorganisation arbeitete. Ich erinnere mich, wie erschrocken ich war, als ich die armseligen, kaputten Häuser und Straßen in Gaza sah. Überall hingen Plakate mit dem Konterfei des PLO -Vorsitzenden Yassir Arafat.
Die Situation in den Flüchtlingslagern war unerträglich. Menschen, die seit Jahrzehnten ihr Geburtshaus nicht mehr gesehen hatten, lebten dort noch immer in provisorischen Unterkünften. Kinder sprangen herum, aber ich sah keine Spielplätze und kaum Grün, nur Staub und Verzweiflung. Die Palästinenser, mit denen ich dort sprach, sagten immer wieder: «Leben und Tod liegen in Gottes Hand.» Ich fragte nicht nach Schuld, aber das Leid der Menschen konnte ich nicht vergessen.
Während der vier Jahre, die ich in Israel lebte, spitzte sich die politische Lage zu. Eines Morgens stand ich an der Bushaltestelle in Tel Aviv. Wie jeden Morgen war ich auf dem Weg zum Goethe-Institut. Die Buslinie 5 hielt an, die wartenden Fahrgäste stiegen ein. Ich nahm den Bus einer anderen Linie, der kurz danach kam. Als ich nach 20 Minuten das Goethe-Institut erreichte, wusste ich sofort, dass etwas passiert sein musste: Das Goethe-Institut lag neben dem Ichilov-Hospital. Krankenwagen rasten mir mit Sirenengeheul und Blaulicht entgegen. Im Institut standen meine Kollegen schon vor dem Fernseher und sahen die Eilnachrichten: Ein Selbstmordattentäter hatte den Bus mit der Nummer 5 im Zentrum Tel Avivs in die Luft gesprengt. Die Bilder zeigten Blutlachen und den völlig zerbombten Bus.
Ich war oft mit diesem Bus gefahren. Erst jetzt wurde mir richtig bewusst, dass ich in diesem Land, das nicht mein eigenes war, mein Leben verlieren konnte.
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Mit dem Anschlag auf den Bus am Dizengoff-Boulevard war der Terror im Oktober 1994 in Tel Aviv angekommen: Das Attentat erschütterte die Stadt, die als Sinnbild des weltoffenen Israels galt. 22 Menschen starben, 48 wurden verletzt.
Es war der erste große Anschlag der radikalislamistischen Hamas nach der Unterzeichnung des Oslo-Abkommens: 1993 und 1994 hatten der israelische Ministerpräsident Jitzhak Rabin und der PLO -Vorsitzende Yassir Arafat den schrittweisen Abzug der israelischen Armee aus dem Gazastreifen und dem Westjordanland vereinbart. Die Verträge sahen eine palästinensische Selbstverwaltung und den Verzicht auf Gewalt vor. Besonders schwierige Fragen – die jüdischen Siedlungen in den von Israel besetzten Gebieten, die Zukunft Jerusalems, die Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge – wurden allerdings ausgeklammert und sollten später geklärt werden.
1994 erhielten Rabin, Arafat und der damalige israelische Außenminister Shimon Peres den Friedensnobelpreis. Yitzhak Rabin versprach in einer Rede, «einhundert Jahre Blutvergießen für alle Zeiten zu beenden».
Rabin wurde für seine Politik von der radikalen israelischen Rechten massiv angegriffen. Gleichzeitig versuchten die islamistischen palästinensischen Organisationen Hamas und Jihad, den Friedensprozess mit Bombenanschlägen zu stören.
Am 4 . November 1995 erschoss der israelische Rechtsextremist Jigal Amir den Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin bei einer Friedenskundgebung.
Dem ersten Bombenattentat auf einen voll besetzten israelischen Bus sollten weitere folgen. Fortan konnte man in Tel Aviv so wie auch im Rest Israels nicht mehr mit dem Bus fahren und kein Café, keine Diskothek und keine Einkaufspassage betreten, ohne Angst vor einem Anschlag haben zu müssen.
Mit Yitzhak Rabin starb auch die Hoffnung auf Frieden im Nahen Osten, bis heute.
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Mit dem Anschlag auf Rabin hatte ich nicht gerechnet. Im Land herrschte Trauer. Ein Israeli hatte einen Israeli ermordet. Die Gefahr kam nicht von außen, nicht aus Gaza, dem Westjordanland oder dem Libanon, sondern aus den eigenen Reihen. Die Ermordung Rabins zeigte, wie zerrissen das Land
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