Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
gehöre zu den vielen äthiopischen Juden, die damals gerade nach Israel einwanderten. Erst wenn ich den Mund aufmachte und fließend Deutsch zu sprechen begann, wussten sie Bescheid. Wenn ich meinen Kommilitonen an der Uni erzählte, dass ich Deutsche sei, blickten sie mich überrascht an: Wieso ich aus Deutschland käme, fragten sie. Wie ich da hingekommen sei, wollten sie wissen.
Einige der Holocaust-Überlebenden, die ins Goethe-Institut kamen, hatten Schwierigkeiten mit den Augen. Wenn ich Zeit hatte, setzte ich mich zu ihnen und las ihnen aus deutschen Zeitungen und Romanen vor.
Als ich viel später meine Familiengeschichte entdeckte, war ich froh, den alten Leuten damals vorgelesen zu haben. Ich hatte ihnen nicht aus Schuldgefühl geholfen, sondern einfach so, weil ich es gerne tat. Ich ahnte damals ja nicht, dass mein Großvater Menschen wie sie umgebracht hatte.
Zwei ältere Damen kamen regelmäßig. Sie fragten mich nach meinem Studium, wir plauderten über Alltägliches. Sie nach ihrer Geschichte zu fragen, wagte ich nicht. Ich sprach einfach Deutsch mit ihnen und erzählte ihnen vom Deutschland heute, das so anders war als das, das sie kennengelernt hatten.
Bei einer Veranstaltung im Goethe-Institut unterhielt ich mich mit einem sechzehnjährigen Israeli, der mir erzählte, dass er seit drei Jahren im Gymnasium Deutsch lernte. Ich lobte ihn für seine gute Aussprache. Da sagte er ganz unvermittelt, dass fast seine komplette Familie in Konzentrationslagern umgekommen sei. Erst schwieg ich betreten, schließlich sagte ich hilflos: «Das Wichtigste ist doch, dass wir beide jetzt hier nebeneinander sitzen und miteinander reden können.»
Ich glaube, er bemerkte meine Not, auf jeden Fall lächelte er freundlich und fragte mich schnell, ob ich schon einmal in Berlin gewesen sei und die deutsche Punkband «Die Toten Hosen» kenne.
Der abrupte Themenwechsel war irgendwie skurril, aber gleichzeitig bezeichnend für die jüngere israelische Generation: Deutschland – das war für sie der Nationalsozialismus, aber eben auch die Gegenwart. Sie fragten mich nach Boris Becker, Helmut Kohl und der Wiedervereinigung. Damals war gerade die Berliner Mauer gefallen.
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Nathan Durst, Psychologe und stellvertretender Vorsitzender des AMCHA , des Nationalen Zentrums für Psychosoziale Unterstützung von Holocaust-Überlebenden und deren Familien in Israel, sieht bei den Nachkommen der Opfer Unterschiede zwischen zweiter und dritter Generation.
Die Kinder der Opfer seien oftmals mit dem Schweigen der Eltern aufgewachsen: «Einige wurden nach einem ermordeten Verwandten benannt. Trotzdem redeten viele Eltern nicht offen mit ihnen über das Erlebte – um das Grauen nicht wieder hervorzuholen, aber auch aus Scham über die erfahrene Erniedrigung.» Doch die Kinder hätten trotzdem gespürt, dass ihre Eltern Schreckliches durchgemacht hatten, so Durst. Vielleicht sei das ein Grund, warum es der zweiten Generation oft noch schwerfalle, den Gedanken der Versöhnung zuzulassen: «Die Kinder der Überlebenden hatten oft Berührungsängste gegenüber Deutschen, fühlten Hass und ein Bedürfnis nach Rache.»
Die dritte Generation dagegen sehe die Deutschen differenzierter und trenne deutlicher zwischen Vergangenheit und Gegenwart, so Nathan Durst: «Oft sprachen die Großeltern erst mit den Enkeln über die Zeit im Konzentrationslager; über die Erlebnisse, die sie so lange in sich verschlossen hatten. Das war für alle Familienmitglieder heilsam: Dinge, über die gesprochen wird, lassen sich meist auch leichter verarbeiten.»
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Einmal im Jahr begeht Israel den Holocaust-Tag. Dann heulen im ganzen Land die Sirenen, für zwei Minuten steht alles still, und man gedenkt der Opfer. Ich fand diese Minuten immer sehr bewegend. Von diesem stillen Gedenken ging eine große Kraft aus. Ich stand dann da, inmitten von Israelis, und fühlte mich als Teil der jüdischen Trauergemeinschaft.
Im Umgang mit meinen gleichaltrigen israelischen Freunden spielten meine Nationalität und die Vergangenheit keine Rolle: Noa und ich sprachen über alltägliche Dinge, über unser Studium. Unsere Freundschaft lebte von der Leichtigkeit, den typischen Themen von Zwanzigjährigen: Wir schlossen Wetten ab, mit welcher seiner vielen Verehrerinnen Tzahi, mein hübscher Mitbewohner, als Nächstes im Bett landen würde.
Ich hatte mich am Anfang meines Aufenthalts in Israel intensiv mit dem Nationalsozialismus beschäftigt. Nun stand das Hier und Jetzt im
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