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Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)

Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)

Titel: Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Teege , Nikola Sellmair
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Leben bestimmt. Von seinem Chi wird man begleitet. Wenn ein Mensch vom Wege abkommt, dann wird sein Chi versuchen, ihn wieder auf den rechten Pfad zurückzuführen, so erklärt es zumindest Chinua Achebe.
    Auch ich frage mich, ob das Leben aus einer Reihe von Zufällen besteht oder ob eine übergeordnete Macht wie das «Chi» uns lenkt. Lange Zeit glaubte ich nur an Zufall, nicht an Schicksal. Erst seit ich meine Familiengeschichte kenne, denke ich anders. Wir sind nicht völlig frei in unseren Entscheidungen, einiges in unserem Lebensweg ist vorherbestimmt.
    Nach dem Treffen im Restaurant trennten sich unsere Wege: Mein Vater fuhr zu seiner Familie, ich zurück nach München, in mein altes Leben.
    Meine Mutter hatte ich als Kind noch gesehen und deshalb vermisst, aber mein Vater war für mich immer ein Unbekannter. Ich war neugierig auf ihn gewesen und wollte ihn kennenlernen, um mich selbst besser zu verstehen. Aber ich hatte nie Sehnsucht nach ihm verspürt. Das änderte sich auch durch unser Treffen nicht. Er blieb mir fremd.
    Ich besuchte ihn noch einmal, er hatte mich zu sich nach Hause eingeladen. Ich lernte seine Familie kennen, seine Frau und seine Kinder. Ich sah, dass sich mein Vater große Mühe gab, aber ich war mit den vielen fremden Menschen überfordert. Wir verabschiedeten uns freundlich. Danach sahen wir uns lange nicht wieder.
    Einige Monate nach dem Treffen mit meinem Vater zog ich nach Hamburg. Ein Freund hatte mir von einer neuen Medienagentur erzählt. Ich wollte weg von der Schwere politischer Themen. Ein Job in der Werbung versprach mehr Leichtigkeit. Mittlerweile fühlte ich mich psychisch stabil genug, um wieder regelmäßig zu arbeiten.
    *
    Auf dem Bewerbungsfoto für die Stelle in Hamburg trug Jennifer Teege eine riesige Sonnenbrille und ein Sonnentop, dazu legte sie eine Reihe von Ideen für Werbespots und Anzeigen, außerdem das Zeugnis der ersten Grundschulklasse: «Jennifer fügt sich gut in die Klassengemeinschaft ein.»
    Ihre Bewerbung passte zur Agentur, und sie passte in die Zeit: Es war Ende der neunziger Jahre, die New Economy boomte noch. In der Agentur wurden jeden Monat neue Leute eingestellt, es gab genug zu tun. Friseur und Masseur kamen ins Büro, morgens gab es Frühstück für alle. Um 9 . 00  Uhr begann der Arbeitstag, und wer um 18 . 00  Uhr das Großraumbüro verließ, der wurde gefragt: «Arbeitest du heute nur halbtags?»
    *
    Am ersten Tag in der Agentur sprach mich im Flur ein großer Mann mit tiefer Stimme an: «Bist du neu hier?» Es war der Agenturchef. Götz. Mein Mann fürs Leben.
    Frisch verliebt saß ich in einer Loftetage im Zentrum Hamburgs, textete Internet-Kampagnen für Banken, Zigaretten-, Auto- und Möbelmarken.
    Die Arbeit machte mir Spaß. Die Atmosphäre war gut, alle waren bester Laune. Bei den Kampagnen für ganz unterschiedliche Produkte konnte ich endlich meine Neugier auf Menschen ausleben: Schon immer habe ich die Leute um mich herum ausgefragt. Mich interessiert, wie andere leben, in welchen Betten sie schlafen, auf welchen Sofas sie sitzen und wohin sie in den Urlaub fahren.
    Es dauerte nicht lange, da tauchten die gleichen Probleme auf wie früher. Noch immer hatte ich die Depressionen nicht im Griff. Nun begleiteten sie mich nicht mehr ständig, dafür kamen sie wellenartig. Irgendwann löste jede neue Aufgabe Panik aus. Tagelang formatierte ich nur alte Texte am Computer um. Einmal zog ich mich kurzfristig mit einem Attest aus der Affäre: grippaler Infekt.
    Die Wahrheit sagen konnte ich nicht. In der Welt der Werbung geht es um die perfekte Fassade. Niemand spricht über psychische Probleme, denn sie fördern nicht die Kreativität. Ich fühlte mich damals ständig unter Druck. Einmal die Woche besuchte ich eine psychologische Gesprächsgruppe. An diesen Abenden schlich ich mich immer unter einem Vorwand davon.
    *
    Götz Teege ist ein ruhiger, besonnener Mann, der nicht viele Worte macht. Über seine Frau Jennifer sagt er: «Es war Liebe auf den ersten Blick. Sie inspiriert mich.» Götz Teege, der selber aus einer stabilen Familie mit vier Geschwistern kommt, versuchte nachzuvollziehen, wie Jennifer aufgewachsen war: «Ihr Grundproblem ist: Sie hat gelernt, dass sie sich auf niemanden verlassen kann.» Trotz ihrer schwierigen Kindheit habe seine Frau eine «ungeheure Kraft»: «Das hat mich immer an ihr fasziniert: Wenn es ihr schlechtging, kämpfte sie, um aus diesem Tief wieder herauszukommen. Sie wollte verstehen, den Dingen auf

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