Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
lag auf der Couch und berichtete, was ich gerade erlebte oder was mich bewegte. Oft erzählte ich auch aus der Vergangenheit oder sprach über meine Träume.
Während der vielen Stunden bei meiner Münchner Therapeutin kam die Frage nach meiner Mutter wieder hoch. Das Grundgefühl, weggegeben und verlassen worden zu sein, war nicht verschwunden, ich hatte es nur verdrängt. Auch die Frage nach meinem Vater beschäftigte mich plötzlich.
In der Grundschule wollten die anderen Kinder immer wieder wissen, woher ich käme und warum meine Haut so dunkel sei. Ich erzählte ihnen dann, mein Vater sei ein afrikanischer Häuptling, der auf einem Elefanten durch den Dschungel reite. Später behauptete ich, mein Vater sei Idi Amin, der grausame Diktator, der in den siebziger Jahren Uganda regierte. Er war der einzige afrikanische Herrscher, den ich als Kind kannte. Ich dachte, so verstehen die anderen Kinder endlich, dass ich über das Thema nicht reden will, und lassen mich in Ruhe.
Als ich nach dem Abitur nach Paris zog, streifte ich tagelang durch das afrikanische Viertel «Goutte d’Or» im 18 . Arrondissement: Auf dem Markt wurden Süßkartoffeln und Maniokwurzeln verkauft, daneben lagen geräucherte Hechte, die aussahen wie vertrockneter Gummi. Fliegende Händler boten Erdnüsse und gebratenen Mais an. Die Frauen waren in wild gemusterte Batikstoffe gewickelt. Ihre Kinder trugen sie auf dem Rücken, die Einkäufe balancierten sie auf dem Kopf. In den Friseurläden wurden Zöpfe geflochten. An einem der Marktstände wehte eine togolesische Flagge.
Afrika war auf einmal ganz nah.
Es war eine mir fremde Welt. Gleichzeitig fühlte es sich an, als käme ich nach Hause. Ich mochte den Rhythmus der afrikanischen Musik, das farbenfrohe Durcheinander. Endlich drehte sich niemand mehr nach mir um oder sah mich aus den Augenwinkeln an.
In Deutschland sind die Schwarzen in der Minderheit. Wenn wir uns dort auf der Straße sehen, nicken wir uns kurz zu, grüßen uns, auch wenn wir uns nicht kennen. Die dunkle Hautfarbe schafft eine Verbundenheit.
Im afrikanischen Viertel in Paris war mein Aussehen auf einmal selbstverständlich. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich wie eine unter vielen.
Meine dunkle Haut hatte mir mein Vater vererbt. Wo lebte er jetzt wohl? Wer war er? Und wer war ich?
Ich beschloss, meinen Vater zu suchen, und wandte mich an das Jugendamt. Er lebte in einem Dorf in Deutschland.
Ich schrieb ihm ein paar Zeilen, fragte ihn, ob er mich sehen wolle. Wenige Tage später kam seine Antwort. Sein Briefpapier war lindgrün, die Handschrift verschnörkelt, sein Deutsch geschliffen. Er bedankte sich für meinen Brief und teilte mir mit, er habe ihn immer erhofft, ja sogar erwartet. Nun sei ihm ein großer Stein vom Herzen gefallen. Mit großer Aufregung sehe er einem Treffen entgegen. Er würde sich sehr freuen, mich endlich kennenzulernen und nachzuholen, was ihm all die Jahre versagt geblieben sei.
Wir verabredeten uns in einem Restaurant. Zur Begrüßung überreichte er mir eine Rose.
Mein Vater ist Nigerianer. Er erzählte mir, er komme aus Umutu, einer Kleinstadt im Südosten Nigerias, und gehöre zum Stamm der Igbo. Die Igbos sind ein Volk in Nigeria, ursprünglich Waldbauern, heute überwiegend Händler, Handwerker und Beamte. Die meisten bekennen sich zum Christentum.
Mein Vater berichtete mir, er sei einer der Ersten gewesen, die Ende der sechziger Jahre sein Dorf verließen. Wer es damals in Nigeria zu etwas bringen wollte, habe eine westliche Ausbildung angestrebt. Außerdem herrschte zu dieser Zeit Bürgerkrieg in Nigeria.
Mein Vater studierte eine Weile in Deutschland, ging dann nach Nigeria zurück und arbeitete für die Regierung. Er erzählte, er sei an der Korruption verzweifelt: Computer, die für Schulen gedacht waren, verschwanden bei Ministeriumsangestellten. Schließlich zog er wieder nach Deutschland. Heute ist er mit einer Deutschen verheiratet und hat noch fünf Kinder. Meine Halbgeschwister.
Mich wollte er nach der Geburt bei meiner afrikanischen Großmutter in Umutu unterbringen. Ich erfahre, dass mein Vater mir einen afrikanischen Namen gab: «Isioma». Isioma ist ein traditioneller Igbo-Name, er bedeutet: «Viel Glück».
Mein Vater überreichte mir zwei Bücher des nigerianischen Schriftstellers Chinua Achebe, die mir sehr gefielen. Es geht in diesen Büchern um die afrikanische Tradition und um eine übergeordnete Macht, an die die Igbos glauben: Das «Chi», das das
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