Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
Jennifer streichelt Anats Hand. Anat hat Jennifers riesige Sonnenbrille aufgesetzt – ein mondänes Modell, das nicht so recht zu ihr passen will. «Damit bin ich der Star im Kibbuz», sagt Anat und lacht.
Anats älterer Sohn Kai ist jetzt siebzehn – fast so alt wie Anat und Jennifer, als sie sich kennenlernten. Der Geschichtsunterricht in Kais letzten beiden Schuljahren behandelt vor allem den Holocaust. Anat sagt, ihr Sohn sei jetzt so voller Wut auf die Deutschen.
Bald wird Kai auf Klassenfahrt gehen und durch verschiedene Konzentrationslager in Polen reisen – Standardprogramm für israelische Jugendliche. Anat möchte gern, dass Jennifer dazukommt. Dass eine Deutsche mit dieser besonderen Geschichte dabei ist, wenn Kais Klasse in Płaszów ist.
*
Ich muss darüber nachdenken, ob ich Kai und seine Mitschüler begleiten will. Eigentlich möchte ich jetzt nach vorne schauen, nicht zurück.
Wir gehen durch den Kibbuz. Anat zeigt mir die neuen Gästehäuser. Das nächste Mal will ich mit meinem Mann und meinen beiden Söhnen hierherkommen. Ich wollte immer mit meiner Familie nach Israel reisen – aber erst, wenn meine Kinder groß genug sind, um dieses komplizierte Land zu verstehen.
Ich umarme sie zum Abschied: «Anati, my dear friend.»
Blumen in Krakau
Jeder Mensch möchte herausfinden, wer er ist.
(Jennifer Teeges ehemaliger Psychotherapeut am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf)
Was ist Familie? Das, was wir erben, oder das, was wir miteinander teilen?
Das Buch über meine Mutter habe ich vor genau vier Jahren entdeckt.
Vor drei Jahren war ich das erste Mal in Krakau.
Als ich damals nach Polen reiste, war ich am Tiefpunkt meines Lebens angelangt. Nachdem ich das Buch über meine Mutter gelesen hatte, war alles wieder aufgebrochen: die Verletzungen aus der Kindheit; das Gefühl, nicht zu wissen, wer ich wirklich bin; die Traurigkeit, die mein ganzes bisheriges Leben überschattete.
Jeder Mensch will wissen, woher er kommt, wer seine Eltern und seine Großeltern sind. Er möchte eine vollständige Geschichte über sich erzählen, mit einem Anfang und einem Ende. Er fragt sich: Was ist einzigartig an mir?
Das Buch war der Schlüssel zu allem, der Schlüssel zu meinem Leben. Es lüftete endlich mein Familiengeheimnis, aber die Wahrheit, die nun endlich offen vor mir lag, war schrecklich.
Ich kam nach Krakau, um mich der übermächtigen Figur des Amon Göth zu nähern, um zu verstehen, warum er meine Familie zerstört hat.
Bei meinem Besuch vor drei Jahren wagte ich nicht, einer jüdischen Touristin, die ich zufällig traf, meine wahre Identität zu enthüllen. Auch meinen Freunden in Israel vermochte ich damals noch nicht zu erzählen, wer ich war.
Das ist vorbei. Ich kehre nach Krakau zurück, um meine Freundin Anat und ihren Sohn Kai zu treffen. Auch Anat fährt mit nach Polen – es ist üblich, dass die Schulklassen nicht nur von ihren Lehrern, sondern auch von einigen Eltern begleitet werden.
Morgen werde ich vor Kais Klasse treten und meine Geschichte erzählen. Wie werden die Schüler reagieren?
Ich war mir zuerst nicht sicher, ob ich wirklich dazukommen wollte. Anat gegenüber äußerte ich meine Bedenken nicht. Meine Zweifel hatten nichts mit ihr zu tun. Ich war lediglich entschlossen, nicht regelmäßig über die NS -Zeit zu sprechen. Nicht weil ich es für falsch halte: Ich finde es gut, dass sich Nachkommen der Täter für einen kritischen Umgang mit der Vergangenheit einsetzen. Aber ich selbst möchte den Nationalsozialismus nicht zu meinem alleinigen Lebensthema machen. Es gibt unendlich viele Themen, für die es sich zu engagieren lohnt. Ich bin keine Expertin für den Holocaust.
Ich entschied mich trotzdem, Anats Bitte zu erfüllen. Es war ja nicht irgendeine Schulklasse, vor die ich treten sollte, sondern die von Anats Sohn Kai, mit Anat an meiner Seite.
Auch glaubte ich, es könnte für die Schulklasse interessant sein, mich zu treffen. Ich dachte kaum darüber nach, wie sich die Begegnung auf mich auswirken würde. Ich hatte keinerlei Erwartungen und wollte die Reise einfach auf mich zukommen lassen.
Als ich in Krakau am Flughafen ankomme, bin ich sehr müde. Ich habe zu wenig Zeit gehabt, mich auf das Treffen mit den Schülern richtig vorzubereiten. Eigentlich wollte ich Vokabeln auffrischen, um morgen die Einführungsworte auf Hebräisch zu halten. Aber daran war nicht zu denken.
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