Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
nach Berlin käme, würde sie bestimmt denken, ich würde sie bewusst meiden.
Aber ich konnte nicht zum Filmfest fahren und mit Noa dort über Nebensächlichkeiten plaudern. Ich konnte und wollte sie nicht belügen, wenn sie mich fragte: Was ist los mit dir? Dazu kannten wir uns zu lange.
Auf der Berlinale sollte ein Spielfilm nach einem Drehbuch von Noa gezeigt werden. Es ging darin um einen autistischen Jungen. Mein alter WG -Genosse Tzahi spielte eine der Hauptrollen.
Ich wusste, wie lange Noa an dem Drehbuch geschrieben hatte. Jahre ihres Lebens hatte sie auf diesen Film hingearbeitet, mir immer wieder davon erzählt. Sie lud mich ein, wollte, dass ich im Kinosaal in Berlin neben ihr sitze. Es würde ihr Moment sein. Ich wollte ihn mit ihr teilen und nicht mit meiner Geschichte zerstören.
Ich hatte einmal den Fehler gemacht, einer guten Freundin am Rande eines Geburtstages von meiner Familiengeschichte zu erzählen. Die Freundin war danach ziemlich erschüttert und konnte die Feier nicht mehr genießen.
Ich schrieb Noas Mann Yoel eine lange Mail und erzählte ihm, in welch schwieriger Situation ich mich befand: Ich schilderte ihm, dass mir etwas auf dem Herzen lag, das ich mit Noa besprechen musste, ihr aber nicht auf der Berlinale sagen wollte. Dann schrieb ich ihm meine ganze Geschichte und bat ihn, sie Noa zu erzählen. Ich fragte ihn, wie viele Verwandte Noa und er im Holocaust verloren hätten und ob jemand in Płaszów gestorben sei.
*
Yoel schrieb zurück: «Wir alle haben jemanden verloren. Der Holocaust ist in unserer DNA , er ist der Grund, warum wir hier sind. Aber was kannst du dafür?
Die Berlinale ist ein wichtiger Moment für Noa, aber Du wirst ihn ihr nicht verderben. Sie will Dich so gerne wiedersehen, sie vermisst Dich. Ich bin sicher: Sie wird Deine Geschichte anhören und Dir helfen, wo immer sie kann. Du musst sie nicht schonen. Du brauchst jetzt unsere Unterstützung und Rücksicht, nicht sie. Noa wird immer Deine Freundin bleiben, in guten und in schlechten Zeiten.»
Yoel und Noa sitzen in der gemeinsamen Wohnung im Zentrum Tel Avivs, als sie ihre Familiengeschichten erzählen.
Die Familie von Noas Vater lebte in den USA , als Hitler an die Macht kam, sie war sicher.
Die Familie von Noas Mutter stammt aus Polen und Russland. Ihre Großmutter mütterlicherseits wohnte bei Kriegsbeginn in der Stadt Stolin in Weißrussland. Sie wurde während des Zweiten Weltkriegs von Stalin nach Sibirien deportiert. Ihre Eltern, ihre vier Geschwister und deren Kinder blieben zurück und wurden von Deutschen mit Hunderten anderer Juden bei einem Massaker umgebracht.
Verwandte von Noas Großvater mütterlicherseits wurden im damaligen Polen im Ghetto von Pinsk ermordet. Der Bruder ihres Großvaters starb im Konzentrationslager Majdanek bei Lublin.
Auch Noas Mann Yoel hat Verwandte in Polen verloren. Er erinnert sich, wie er und seine Freunde sich als Kinder in den siebziger Jahren über einen Nachbarn wunderten, der einen VW Käfer besaß: Dieser Nachbar war im KZ gewesen – und fuhr einen deutschen Wagen!
Das sei lange her. Yoel lacht jetzt und zeigt auf seinen Herd: Siemens!
In Yoels Heimatdorf gab es auch Paare, die Kinder adoptierten, weil sie selber nach Misshandlungen und medizinischen Versuchen in Konzentrationslagern keinen Nachwuchs mehr bekommen konnten. Schwer traumatisierte Menschen, die immer in der Furcht lebten, dass ihre Adoptivkinder eines Tages verschwinden würden oder dass man sie ihnen wegnehmen könnte.
Yoel erzählte seiner Frau Noa behutsam, was er aus Jennifers Mail erfahren hatte. Noa sagt, sie sei schockiert gewesen: «Ich war noch niemals so vertraut mit einem engen Verwandten eines Nazi-Täters.» Noa hat noch andere deutsche Freunde, sie fragte sich, welche Verbrechen deren Großväter wohl im Krieg begangen hatten.
Warum hatte sie sich nie danach erkundigt? «Zuerst traute ich mich nicht, nach den Großeltern zu fragen. Später war das Thema dann immer so weit weg. Wenn man mit jemandem befreundet ist, diskutiert man nicht darüber, ob seine Großeltern vielleicht deine denunziert oder umgebracht haben. Bei Jenny ist es besonders augenfällig: Sie und Amon Göth – ich kriege das einfach nicht zusammen!»
Noa ist überzeugt: «Es war Schicksal, dass ich Jenny als junges Mädchen traf. Unsere Freundschaft wäre nicht möglich gewesen, wenn wir gewusst hätten, dass ihr Großvater ein KZ -Kommandant war. Wie hätte sie mit einer solchen Bürde auf mich zugehen
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