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Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)

Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)

Titel: Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Teege , Nikola Sellmair
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Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in München verstorben. Es begann mit Prostatakrebs, am Ende waren die Metastasen überall in seinem Körper.
    Am Krakauer Flughafen nehme ich ein Taxi und fahre in die Stadt. Draußen ist es schon dunkel. Die vergangenen Tage im Krankenhaus ziehen an mir vorüber.
    In Gedanken sitze ich noch an Gerhards Bett. In den letzten zwei Wochen habe ich erlebt, was es bedeutet zu sterben. Bisher kannte ich den Tod nur aus einer abstrakten Perspektive.
    Noch nie hatte ich jemanden beim Sterben begleitet.
    Innerhalb weniger Tage verabschiedet sich ein Mensch. Der Körper verfällt, Schritt für Schritt. Es gibt so viele kleine Stationen auf dem Weg zum Tod. Es ist ein Prozess, und am Ende wird einem alles genommen.
    Wenn ein naher Angehöriger stirbt, überdenkt man auch sein eigenes Leben. Die eigene Sterblichkeit, die jeder gern verdrängt, ist plötzlich ganz nah.
    Als Gerhard ins Krankenhaus kam, konnte er noch selbst essen, sich kurz aus dem Rollstuhl erheben. Auch trinken konnte er anfangs selbständig, dann nur noch durch einen Strohhalm, schließlich nicht einmal mehr das. Er erhielt Infusionen, musste künstlich beatmet werden. Auf lebensverlängernde Maßnahmen wurde auf seinen Wunsch hin verzichtet.
    Ich holte ihm anfangs Eis, erkundigte mich, welche Sorten er wolle. Erdbeer, Mango und Zitrone, antwortete er. Er konnte kaum noch essen, aber das Eis war für ihn ein kleiner Genuss.
    Am vorletzten Tag konnte er fast nicht mehr sprechen. Ich fragte ihn noch einmal nach der Eissorte, er konnte sich nicht entscheiden. Ich brachte ihm ein Zitroneneis mit und fütterte ihn vorsichtig mit einem Löffel. Ein letztes Mal versuchte er, den Geschmack zu kosten. Sein Mund war so trocken, sein Gesicht ganz ausgemergelt. Er sah aus wie Gevatter Tod.
    Immer wieder wollte Gerhard aufrecht sitzen, weil ihm das Erleichterung beim Atmen brachte. Doch die Ärzte sagten uns, wir dürften ihn nicht mehr aufsetzen: zu groß sei die Gefahr, dass er kollabiere. Er lag dann da, mit seinen bittenden Augen; er wollte, dass wir ihn hochziehen. Ich saß ihm gegenüber und war so hilflos. Das Aufsitzen bedeutete für ihn einen kleinen Rest Selbständigkeit. Diesen kleinen Gefallen hätte ich ihm gern getan, aber nicht einmal das war möglich. Irgendwann gab er dann auf und blieb still liegen, die Augen geschlossen.
    Im Krankenhaus waren alle Menschen zusammengekommen, die Gerhard nahestanden. Es war immer jemand bei ihm: Nachts wachte Inge an seiner Seite. Tags kamen meine Brüder, Freunde und Verwandte und ich mit meinem Mann und meinen beiden Söhnen dazu.
    Nur Gerhards Sterben zählte noch, alles andere war weit weg. So wie der todkranke Patient in eine Zeitlosigkeit glitt, in eine dämmerige Zwischenwelt, so verloren auch wir, seine Begleiter, das Gefühl für Stunde und Tag.
    Gerhard hatte noch genug Zeit, sich von seinen Freunden und Verwandten zu verabschieden, konnte ganz bewusst Lebewohl sagen. Ein Geschenk.
    Wir fragten uns alle, ob Gerhard bis zu seinem siebzigsten Geburtstag durchhalten würde. Dies war sein letzter Wunsch gewesen: Im Kreis seiner Familie Geburtstag zu feiern.
    An seinem Geburtstagsmorgen versammelten wir uns alle im Krankenhaus. Die Tochter meines Bruders Manuel hatte einen Kuchen gebacken.
    Gerhard öffnete nur kurz die Augen. Er war kaum bei Bewusstsein, spürte aber, dass wir alle gekommen waren. Ich glaube, es war für ihn noch ein schöner Geburtstag und ein schöner Abschied. Wir saßen den ganzen Tag an seinem Bett, wechselten uns ab. Im Stillen hoffte ich, er würde nun bald sterben. Ich wusste, das war in seinem Sinn.
    Kurz nachdem ich die Klinik verlassen hatte, starb Gerhard.
    Drei Stunden später saß ich im Flugzeug.
    Vor drei Jahren wollte ich meine Reise nach Krakau unbedingt antreten, obwohl ich kurz zuvor eine Fehlgeburt erlitten hatte. Auch diesmal wäre es mir nicht in den Sinn gekommen, Anat abzusagen.
    Mein Besuch in Polen war lange geplant. Vor Wochen hatte ich den Flug nach Krakau gebucht. Zu meinem Naturell gehört es, mich an Zusagen zu halten.
    Das Taxi hält vor einem großen Hotel im Krakauer Viertel Podgorze, dem ehemaligen Judenghetto. Morgen werde ich Anat und Kai, Kais Klasse und seine Lehrer treffen. Seit ich Anat und Kai zum letzten Mal in Israel gesehen habe, ist fast ein Jahr vergangen. Ich freue mich auf sie.
    *
    Płaszów ist die vorletzte Station der israelischen Schüler auf ihrer Reise durch Polen.
    Sie haben in den letzten Tagen das

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