Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
den Grund gehen. Sie hatte immer das Gefühl, es gebe da etwas, von dem sie nichts wisse. Etwas, das sie herausfinden müsse, um ihr Leben in den Griff zu bekommen.»
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Meine Beziehung zu Götz festigte sich. Wir sprachen bald über Kinder. Er war sieben Jahre älter als ich und hatte bereits zwei Kinder aus seiner geschiedenen Ehe. Daher war er sich zunächst nicht sicher, ob er noch einmal Vater werden wollte. Hätte er keinen Nachwuchs mehr gewollt, hätte ich unsere Beziehung beendet. Ein Leben ohne Kinder kam für mich nie in Frage. Mit zweiunddreißig Jahren bekam ich meinen ersten Sohn, zwei Jahre später den zweiten.
Ich versuchte, meinen Söhnen all das zu schenken, was ich selbst viele Jahre vermisst hatte: Wärme, Geborgenheit. Normalität.
Das Wichtigste, das ich ihnen heute mitgeben will, ist ein stabiles Selbstwertgefühl. Sie sollen es sich nicht später so mühselig in Hunderten von Therapiestunden erarbeiten müssen wie ich.
Anfangs hatte ich große Schwierigkeiten, meine Söhne mit jemand anderem allein zu lassen. Ich brachte es nicht übers Herz, mich von ihnen zu verabschieden. Wenn die Babysitterin kam, schlich ich mich davon, um ihnen den Trennungsschmerz zu ersparen.
Heute würde ich es anders machen. Ich habe dazugelernt: Ein kurzer Abschied, eine kurze Trennung sind für Kinder auszuhalten. Viel schlimmer ist es, sich nicht zu verabschieden: Wenn die Mutter plötzlich weg ist, wird das Urvertrauen eines Kindes erschüttert.
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Jennifer Teeges Bruder Matthias fällt auf, dass seine Schwester im Umgang mit ihren Söhnen sehr besorgt und angespannt wirkt: «Ihre Kinder behütet sie sehr, vielleicht zu sehr.»
Matthias glaubt, dass Jennifer sich unter Druck setzt: «In Israel wollte sie eine perfekte Studentin sein. Jetzt will sie eine perfekte Mutter sein.»
Jennifers Mutterbild sei das einer Frau, die rund um die Uhr für ihre Kinder da ist: «Sie versucht, ihnen die Kindheit zu bieten, die sie nie hatte. Sie versucht, die Mutter zu sein, die sie selbst gerne gehabt hätte.»
Nach der Heirat mit Götz Teege und der Geburt ihrer Söhne wichen Jennifer Teeges Depressionen einer Traurigkeit, die sich leichter aushalten ließ. Ihr Leben schien im Lot – bis sie im Alter von achtunddreißig Jahren das Buch über ihre Mutter fand.
Plötzlich hörten Anat und Noa nichts mehr von ihr. Anat sagt: «Wir hatten sonst regelmäßig Kontakt, aber plötzlich war Schluss. Jennifer meldete sich über Monate nicht mehr. Noa und ich machten uns große Sorgen, wir schickten ihr Mails: Was ist eigentlich los bei Dir? Bitte schreib uns doch.»
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Ich brachte es nicht über mich, mich bei Noa und Anat zu melden, nachdem ich das Buch über meine Mutter gefunden hatte. Zuerst brauchte ich Zeit, um mich von dem Schock zu erholen.
Als ich so weit war, mich meinen Freundinnen in Israel zuzuwenden, merkte ich, wie schwer mir das fiel. Mir kam es so vor, als hätte ich all die Jahre eine Art Doppelleben geführt. Als hätte ich meine Freundinnen und alle Menschen um mich herum betrogen.
Obwohl ich nichts für mein Familiengeheimnis konnte, plagte mich das schlechte Gewissen.
Ich hatte vor allem Angst, Noa alles zu erzählen. Ich wusste nicht, wie sie es verkraften würde. Sie nahm sich manche Dinge sehr zu Herzen.
Hatte Noa Verwandte im Holocaust verloren? Wir hatten während unserer Studienzeit in Israel über dieses Thema geredet. Ich wusste, dass keine nahen Familienmitglieder umgebracht worden waren. Über ihre weitere Verwandtschaft aber wusste ich gar nicht Bescheid. War jemand in Płaszów ermordet worden? Hätte sie es damals in Israel erwähnt, es wäre mir nicht aufgefallen.
Anat hätte ich meine Geschichte eher erzählen können, sie ist weniger leicht zu erschüttern. Aber ich wollte zuerst mit Noa sprechen.
Also meldete ich mich bei beiden Freundinnen nicht. Auf ihre Mails antwortete ich nur sporadisch.
Zum hebräischen Neujahrsfest schickte mir Noa immer Fotos von ihrer Familie. Manchmal meldete sie sich auch zu anderen jüdischen Festen oder zu familiären Anlässen. Ich antwortete nur mit wenigen kurzen Sätzen.
Nach fast drei Jahren, in denen wir uns nicht gesehen hatten, kündigte Noa an, sie wolle zur nächsten Berlinale kommen, dem alljährlichen Filmfest in Berlin. Noa war inzwischen Drehbuchautorin in Israel. Wenn Noa auf die Berlinale kommt, versuchen wir immer, uns zu sehen, unsere Treffen dort sind ein festes Ritual. Ich hatte mich nicht bei ihr gemeldet – wenn ich jetzt nicht
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