Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
hatten und anderes mehr. Die Guten seien dagegen alle ermordet worden.»
Ein Wendepunkt war der Prozess gegen Adolf Eichmann in Israel 1961 . Eichmann war für die Deportation der europäischen Juden zuständig gewesen. Der israelische Chefankläger wartete im Prozess gegen ihn nicht nur mit Akten und Papieren auf, sondern lud vor allem viele Zeitzeugen vor, die erstmals offen über ihren Schmerz und ihre Trauer sprachen. Nach der Interpretation Tom Segevs «erlöste» der Prozess «eine ganze Generation von Überlebenden» und diente als «eine Art nationale Gruppentherapie».
Die Erinnerung an die Shoa wurde nun zur nationalen Aufgabe, zu einem zentralen identitätsstiftenden Element des Staates Israel, das bis heute nicht an Bedeutung verloren hat. Erzieher in israelischen Kindergärten und Vorschulen sowie Lehrer an Schulen sind angehalten, altersgerecht Kenntnisse der Shoa zu vermitteln.
Das israelische Erziehungsministerium erstellte auch ein Konzept für Schülerreisen. Seit 1988 haben Zehntausende von Schülern an Fahrten nach Polen teilgenommen.
Die Jugendlichen werden lange auf diese Reisen vorbereitet, die Teilnahme ist nicht verpflichtend. Anat hat mit anderen Eltern darüber diskutiert, ob man Kinder diesem Schrecken aussetzen darf, einige haben sich gegen die Fahrt entschieden.
Anat hatte keine Sorge, dass ihr Sohn Kai ängstlich und verstört aus Polen zurückkehren würde: «Ich befürchtete eher, er würde die Deutschen am Ende hassen und sich selbst nur in der Rolle des Verfolgten sehen.»
Auf der Fahrt nach Krakau haben die Schüler im Bus noch einmal den Film «Schindlers Liste» angesehen. Sie werden den Schauspieler Ralph Fiennes als grausam mordenden Amon Göth noch deutlich vor Augen haben, wenn sie in Płaszów Jennifer Teeges Geschichte hören.
Deswegen war es Anat so wichtig, dass ihre Freundin Jennifer mit nach Płaszów kommt: «Es ist zu einfach, Amon Göth zu hassen. Wenn die Deutschen und ihre Verbündeten zu Mördern wurden, können auch wir zu Mördern werden. Wenn die Deutschen wegschauten, kann das auch uns passieren. Ich hoffe, dass meine beiden Söhne immer daran denken. Dass sie die Palästinenser immer als Menschen sehen werden und nicht als Feinde.»
Als die israelischen Jugendlichen in Krakau eintreffen, werden sie von drei Sicherheitsleuten begleitet: Ein Leibwächter ist aus Israel mit angereist, in Krakau unterstützen ihn zwei polnische Polizisten. Sie sind besonders wachsam: Vor vier Tagen wurde in Bulgarien ein Selbstmordattentat auf einen Reisebus mit israelischen Touristen verübt, sechs Menschen starben. Verdächtigt wird die libanesische Hisbollah-Miliz.
Die Sicherheitsleute überprüfen den Reisebus der israelischen Schulklasse vor jedem Einsteigen, sie inspizieren vorab jede Unterkunft. Das Hotel erfüllt die Sicherheitsauflagen: Jedes Stockwerk kann nur durch eine Tür betreten werden, die mit einer Karte zu öffnen ist. Die Zimmer der Israelis liegen alle auf einem Stockwerk.
Nachdem die Jugendlichen ihre Zimmer bezogen haben, treffen sie sich noch kurz in der Lobby des Hotels, sitzen auf den modernen hellen Sofas zwischen künstlichen Palmen.
Die Jungen und Mädchen tuscheln und kichern, sie wollen sich später heimlich auf den Zimmern besuchen. Wie auf einer ganz gewöhnlichen Klassenreise. Die Jugendlichen, die im Kibbuz zu Hause sind, erkennt man daran, dass sie barfuß über den dunklen Fliesenboden in der schicken Hotellobby laufen. Ein paar Männer in Anzügen blicken ihnen irritiert nach.
Auch Kai läuft barfuß umher. Er ist der Einzige aus der Schülergruppe, der weiß, dass Jennifer Teege in Płaszów dabei sein wird. Außer ihm sind nur die mitreisenden Eltern und Lehrer eingeweiht.
*
Als ich das Hotel in Krakau betrete, ist es schon Nacht. Am nächsten Tag treffe ich in der Innenstadt die Gruppe der Israelis.
Anat und ich umarmen uns lange.
Die Schulklasse hat bereits das ehemalige Ghetto in Podgorze und das jüdische Viertel Kazimierz mit seinen Synagogen besichtigt. Jetzt haben die Schüler das erste Mal auf ihrer Reise ein bisschen Freizeit in der Krakauer Innenstadt. Am historischen Marktplatz Rynek wollen sie Andenken und Geschenke für daheim kaufen. Danach ist die Fahrt zum Mahnmal von Płaszów geplant.
Anat und ich nutzen die Zeit, in der die Schüler umherlaufen, und setzen uns abseits in ein Café. Ich erzähle ihr von Gerhard, seinem Tod. Sie dankt mir, dass ich trotzdem gekommen bin. Ich sage ihr, dass ich schon morgen
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