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Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)

Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)

Titel: Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Teege , Nikola Sellmair
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zuständig. Fakten sind wichtig, man braucht sie, um Dinge in der Tiefe zu verstehen. Aber wenn nach den Fakten nichts mehr kommt, wenn man keine Bezüge herstellt und auf die Reflexion verzichtet, sind sie nicht viel wert: Man vergisst sie so schnell, wie man sie gehört hat.
    Die israelischen Schüler haben auf ihrer Reise viel über die Opfer gehört und auch etwas über die andere Seite, die Täter. Sie haben sich wahrscheinlich gefragt, wie es dazu kommen konnte, dass Menschen Millionen anderer Menschen ermordeten.
    Ich möchte die Geschichte aus einer anderen Perspektive erzählen. Ich will erzählen, wie es ist, die Enkelin eines KZ -Kommandanten zu sein. Und ich will von meiner Verbindung mit Anat erzählen.
    Weder Anat noch ich wussten über meine Familiengeschichte Bescheid. Wir sind uns zufällig begegnet. Sie ist eine Nachfahrin der Opfergeneration, ich der Tätergeneration. Trotzdem ist unsere Verbindung nicht symbolisch, sie ist eine echte Freundschaft, die bis heute Bestand hat.
    Der Bus hält am Rande der Schnellstraße, die am Gelände des Lagers vorbeiführt, wir steigen aus. Noch einmal laufe ich den Hügel hoch, zum Mahnmal.
    Als ich das erste Mal hierherkam, war ich mir nicht sicher, was ich mit dem neuen Wissen um meine Familie anfangen sollte. Aber mir war klar, dass hinter all dem Schrecklichen etwas Gutes steckte: Ein halbes Leben hatte ich ohne die Kenntnis meiner Herkunft gelebt, nun wusste ich endlich die Wahrheit. Dieses Wissen hat mich schockiert, aber auch befreit.
    Familiengeheimnisse entwickeln eine zerstörerische Kraft. So oft war ich verzweifelt und hatte das Gefühl, vor verschlossenen Türen zu stehen.
    Mit der Entdeckung des Familiengeheimnisses war auch meinen Depressionen die Grundlage entzogen. Nach der ersten Krakau-Reise ging es mir besser. Heute ist meine Traurigkeit verschwunden.
    Als ich das erste Mal in Krakau war, hatte ich noch die Hoffnung, meiner Mutter wiederzubegegnen und eine neue Beziehung zu ihr aufzubauen. Es ist mir nicht geglückt. Ich habe sie gefunden und wieder verloren.
    Geblieben ist mir meine Adoptivfamilie.
    Lange habe ich mit meinen Adoptiveltern gehadert und vor allem die Unterschiede gesehen – das, was uns trennt. An Gerhards Sterbebett merkte ich, wie viel uns verbindet. Wir haben viele Jahre miteinander verbracht, so vieles miteinander geteilt. Mittlerweile gehöre ich zu diesem Familienverbund.
    Während Gerhards Krankheit haben wir uns gegenseitig gestützt. Es war ein schönes Gefühl: Teil einer Familie zu sein. Als wir im Krankenhaus Gerhards siebzigsten Geburtstag feiern wollten, habe ich vorher mit Matthias aus dem Keller in Waldtrudering das alte Kaffeeservice der Bochumer Oma geholt, dazu die passende Tischdecke. Darauf sind Blumenmotive, die wir alle – mein Adoptivvater, seine Schwester und seine Pflegegeschwister, aber auch meine Brüder und ich – seit Kindheitstagen kennen.
    Als wir den Tisch im Krankenhaus damit deckten, erinnerten sich alle Generationen, die dabei waren, an dieses Kaffeeservice. Für jemand Außenstehenden wären es nur irgendein altmodisches Geschirr und eine gemusterte Tischdecke gewesen.
    Wir sind am Mahnmal angelangt. Die Schüler setzen sich auf die Treppenstufen, die Lehrer, Anat und ich bleiben vor ihnen stehen. Einer der Lehrer spricht einführende Worte zum Lager Płaszów und zum Kommandanten Amon Göth.
    Danach ergreift Anat das Wort. Sie erzählt, wie ich vor über 20  Jahren auf einmal in ihrer WG in Tel Aviv stand, wie unsere Freundschaft wuchs und bis heute besteht. Ihr Vortrag rührt mich an.
    Anat gibt das Mikrophon an mich weiter. Ich begrüße alle mit «Shalom» und beschreibe dann, wie ich aufgewachsen bin und wie ich erst spät mein Familiengeheimnis entdeckte. Ich erkläre, warum ich mich erst nicht mehr bei Anat meldete und wie froh ich bin, heute mit ihr hier zu sein. Mir fällt es nicht schwer, meine Geschichte zu erzählen. Zu den Schülern sage ich, dass ich mich freue, wenn sie mir Fragen stellen. Ich wünsche mir einen Dialog mit ihnen, ich möchte keinen Vortrag halten, sondern selbst etwas Neues erfahren.
    *
    Einige Schüler sind zunächst unkonzentriert, als sie am Mahnmal von Płaszów stehen. Außer dem Monument und grünen Wiesen gibt es nichts zu sehen. Ein paar sind in Gedanken schon bei den nächsten Programmpunkten: Heute Abend wird es Volksmusik geben, endlich etwas Fröhliches: polnische Tänzer in alter Tracht, die Frauen mit Blumenkränzen im Haar, die Männer mit

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