Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
wieder nach München zurückfliegen werde, um mit Inge und meinen Brüdern Gerhards Beerdigung vorzubereiten. Auch will ich mich noch von Gerhard verabschieden, ihn in der Aussegnungshalle sehen, bevor sein Körper verbrannt wird.
Anat fühlt mit mir. Sie kannte Gerhard, sie hat ihn bei seinem Besuch in Israel und bei meiner Hochzeit getroffen. Anat sagt, sie fand meinen Adoptivvater sympathisch. Nur die Diskussionen über den Nationalsozialismus, die er mit ihr führen wollte, habe sie als anstrengend empfunden.
Noch auf dem Sterbebett kreisten Gerhards Gedanken um den Holocaust. Er wollte mit mir über Adolf Eichmann sprechen, er hatte einige Bücher über den Prozess gegen ihn gelesen.
Über viele Jahre hatte Gerhard sich intensiv mit dem Nationalsozialismus beschäftigt. Er recherchierte, las historische Quellen, verglich Opferzahlen. Er fragte nach, wenn er Ungenauigkeiten oder Widersprüche zu entdecken glaubte.
Er verbiss sich regelrecht in dieses Thema. In der Familie spielte es eine eher untergeordnete Rolle, aber er diskutierte darüber mit Freunden, und zwar so heftig, dass einige Freundschaften daran zerbrachen.
Vor seinem Tod legte ich ihm nahe, sich mit einigen dieser Freunde zu versöhnen. Aber er wollte sich nicht entschuldigen. Meine Brüder und ich konnten einfach nicht verstehen, warum er so kompromisslos war, bis zum Schluss.
Im Krankenbett sprach er dann auch über Amon Göth. Er zitierte Dostojewski, fragte, ob der Mensch böse sei. Wir diskutierten die Thesen von Alexander und Margarete Mitscherlich, nach denen die meisten Deutschen im Nachkriegsdeutschland keinen Zugang zu Schuld und Scham fanden. Wieder war mir nicht klar, worauf Gerhard eigentlich hinauswollte.
Ich glaube, er konnte nicht benennen, was ihn eigentlich an diesem Thema verstörte. Er versteckte sich hinter Zitaten und Theorien.
Letztlich waren es seine Eltern, die hinter allem standen.
Es ging um seine eigene Kindheit, seine Mutter und seinen Vater.
Sie waren keine Parteimitglieder, aber Sympathisanten und Mitläufer. Sie mochten die Disziplin und die Hitlerjugend, sie glaubten an die sichere Zukunft, die Hitler ihnen versprach. Den Erfolg der Nationalsozialisten sah der Bochumer Opa als Segen für Deutschland an.
Vor dem Tod sprach Gerhard das erste Mal länger über seine Eltern. Die Bochumer Oma und den Bochumer Opa.
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Matthias Sieber, Jennifer Teeges älterer Adoptivbruder, glaubt, dass sein Vater in vielen Diskussionen unbewusst seine eigenen Eltern verteidigen wollte. Gerhard Sieber habe insbesondere die Frage umgetrieben, ob die deutsche Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg über die Vernichtungslager Bescheid wusste: «Meinem Vater war klar, dass die Deportationen und das Verschwinden von so vielen Menschen nicht unbemerkt geblieben sein konnten. Er fragte sich, ob seine Eltern etwas mitbekommen hatten.»
Gerhard Siebers Eltern waren von Hitlers Ideen angetan, von seiner Person fasziniert: «In den fünfziger Jahren hat mein Großvater einmal zu meinem Vater gesagt, Hitler sei gar nicht tot und werde sicher bald wiederkommen. Mein Vater hat später bereut, da nicht genauer nachgefragt zu haben.»
Gerhard Siebers Vater starb früh. Später versuchte Gerhard Sieber, mit seiner Mutter über die NS -Zeit zu sprechen. Sie behauptete, nichts von der Ermordung der Juden mitbekommen zu haben.
Zu Matthias sagte seine Bochumer Großmutter einmal, ein Grund für den Antisemitismus sei doch gewesen, dass die Juden vor dem Krieg alle Kaufhäuser besessen hätten.
Matthias glaubt: «Mein Vater trug diesen ungeklärten Konflikt mit seinen Eltern mit sich herum. Er hat eine verbissene Auseinandersetzung zum Thema Holocaust geführt – ohne sich bewusst zu sein, dass er eigentlich seine Eltern verstehen wollte.»
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Die Lehrer rufen zum Aufbruch. Wir steigen in den Bus und fahren zum Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Płaszów.
Während der Busfahrt sitze ich neben einer Klassenkameradin von Kai. Ich kenne sie nicht, sie schweigt. Einige andere Jugendliche mustern mich neugierig. Noch wissen sie nicht, wer ich bin, noch bin ich inkognito unterwegs. Anat und die Lehrer dachten, es sei besser, abzuwarten und den Schülern erst am Mahnmal zu erklären, wer ich bin. Ich lehne mich zurück, schließe die Augen und ruhe mich aus, bevor gleich der offizielle Teil beginnt.
Ich habe mir für diesen Tag nichts vorgenommen. Ich weiß nur, was ich nicht will: Wissen vermitteln. Dafür sind Lehrer und Professoren
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