Amsterdam-Cops 04 - Tod eines Strassenhaendlers
und müde und hast mehr Falten im Gesicht, als ich zählen kann. Hast du je meine Gedanken geteilt? Vielleicht ja.
Er tätschelte ihre Schulter noch einmal, das sanfte Schnarchen wurde zu einem tiefen Atmen. Er setzte sich hin, schob die Decken weg, schlug die Beine übereinander und machte den Rücken gerade. Er steckte sich einen Zigarillo an und machte den ersten Lungenzug des Tages und stieß den Rauch in Richtung zum offenen Fenster aus. Im Garten würde seine Schildkröte im Gras herumrudern. Es war acht Uhr und Sonntagmorgen. Die Stadt war still ohne das Brummen und Knattern des Verkehrs. Eine Drossel sang im Garten. Die Spatzen hatten ihr Nest über dem Abflußrohr verlassen und stöberten in der Hecke herum, wobei sie leise schilpten. Die Elstern suchten Reisig, um ihr überdachtes Nest in der Pappel zu verstärken. Er konnte ihren Flügelschlag hören, als sie unmittelbar vor seinem Fenster herumkurvten. Er brummte zufrieden.
Er hatte geträumt und versuchte jetzt, sich daran zu erinnern. Es war ein interessanter Traum gewesen, den er noch einmal erleben wollte. Er hatte mit dem Garten zu tun und dem kleinen Fischteich am Fuße der Pappel und mit einem Planschen. Er zog an seinem Zigarillo, und jetzt fiel ihm der Traum wieder ein. Er war im Garten gewesen, der aber viel größer gewesen war und sich bis weit in die Ferne erstreckt hatte ; und der Fischteich war ein großer See gewesen. Und die Pappel war ein Wald und die Schildkröte ganz nahe gewesen. Die Schildkröte hatte ihre normale Größe gehabt, klein, kompakt, in sich verschlossen und freundlich, ein Salatblatt im Maul. Der Commissaris hatte etwas erwartet, ebenso wie die Schildkröte, denn sie hatte ihren Lederhals gereckt und aufgeregt gekaut. Sie hatte den metallisch blauen Himmel angestarrt und den runden weißen Mond, der den Rasen mit seinem weichen bleichen Licht überflutete.
Und dann war es gekommen. Ein Purpurfleck, der rasch größer wurde. Malvenfarben und sich bewegend. Er spaltete sich in zwei einzelne, aber ähnliche Gestalten. Frauen mit großen Flügeln. Sie waren so nahe, daß er ihre langen Glieder, die geschwungenen Brüste und ruhigen Gesichter sehen konnte. Er sah ihre Gesichtszüge, hohe Backenknochen und schrägstehende Augen. Ruhige Gesichter, aber gespannt und entschlossen. Flügel flatterten, als sie sich über ihm drehten, über ihm und der Schildkröte, die ihre gutmütige Einsamkeit aufgegeben hatte und im hohen Gras zu tanzen versuchte; das Salatblatt hatte sie fallen lassen. Der Commissaris hockte sich hin und hielt sich am Schild der Schildkröte fest. Er erkannte die Gesichter der geflügelten Gestalten. Sie glichen dem Papua, den Beamte der Mordkommission einst festgenommen hatten, der dann aber entkommen und spurlos verschwunden war. Vielleicht waren es seine Schwestern. Oder seine Boten. Oder seine Gedanken, die er von irgendwoher ausgeschickt hatte. Der Commissaris verlor die Assoziation. Die Erscheinungen waren jetzt so nahe über ihm, daß er die schlanken Fußgelenke berühren könnte, wenn er die Hände ausstreckte. Die Flügel bewegten sich wieder, so daß sie an Höhe gewannen. Sie schwebten über dem See und legten dann einer nach dem anderen die Flügel zusammen und fielen. Sie trafen wie Pfeile auf die Fläche des Sees und tauchten ein.
Die Schildkröte war völlig außer sich geraten und hüpfte zu Füßen des Commissaris herum und lenkte so seine Aufmerksamkeit ab. Als er wieder aufschaute, standen die malvenfarbenen Gestalten neben ihm im Gras mit ausgebreiteten Flügeln und beobachteten ihn, wobei sie einen Anflug von Belustigung in den funkelnden Augen und um den sanft lächelnden Mund zeigten. Das war der Traum. Er rieb sich die kahle Stelle des Schädels, erstaunt, daß ihm der Traum wieder eingefallen war. Er mochte weder Purpur noch Malvenfarbe, und nackte Engel mit Flügeln hatten ihn nie sonderlich beeindruckt. Woher waren die Erscheinungen gekommen? Er erinnerte sich jetzt auch an die Ereignisse am Abend zuvor. An Nellies Bar. Nellies Farben waren ebenfalls purpur und malve und selbstverständlich rosa gewesen. Er sah Nellies große, feste Brüste wieder und den Spalt dazwischen, bei dem der Arzt so poetisch geworden war. War er von Nellie so beeindruckt, daß sie ihm zu seinem Traum verholfen hatte, gemeinsam mit der sympathischen Gegenwart der Schildkröte und dem verklärten Abbild seines Gartens und dem Papua, einem Mann, den er einmal sympathisch gefunden hatte und dessen
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