Amsterdam-Cops 04 - Tod eines Strassenhaendlers
einige der Kirchtürme, und wenn er sich irrte, berichtigte sie ihn.
«Ja», sagte sie. «Jetzt verstehe ich. Sie sind zu mir gekommen, weil ich seine Freundin oder vielmehr eine seiner Freundinnen war. Es machte mir nichts aus, jedenfalls nicht sehr viel. Abe konnte charmant sein, er wußte mir zu schmeicheln. Und vielleicht wollte ich ihn auch gar nicht ganz für mich allein. Ich bin einigermaßen zufrieden mit meinem täglichen Leben. Abe hätte es durcheinandergebracht, wenn er ganz darin eingezogen wäre. Es war auch nicht nur Sex; er kam oft, um mit mir über Bücher zu sprechen oder über Filme, die er gesehen hatte, und manchmal ging er mit mir aus.»
«Wie war er?» fragte der Commissaris.
«Verrückt.»
«Wie meinen Sie das, Juffrouw?» fragte Grijpstra.
«Er war verrückt», wiederholte sie.
«In welcher Hinsicht?» fragte der Commissaris. «Er hat doch wohl keine Fratzen geschnitten oder ist auf allen vieren herumgesprungen, oder?»
«Nein, nein. Wie kann ich es nur erklären? Er hatte eine ungewöhnliche Vorstellung von Werten. Die meisten Menschen haben feste Wertvorstellungen oder gar keine. Abe schien seine immerzu zu ändern, aber ohne schwach zu sein. Er dachte von einem Standpunkt aus, den niemand begreifen konnte. Auch ich habe ihn nicht verstanden, und ich habe es oft versucht.»
Der Commissaris hatte sich in seinem Sessel ein wenig vorgebeugt. «Das genügt nicht, Juffrouw. Sie müssen uns schon etwas mehr erzählen. Ich kann den Mann nicht erkennen, wir haben ihn nur als Leiche gesehen, wissen Sie. Sie haben ihn gut gekannt …»
«Ja. Ich will es versuchen. Nun … er war mutig. Vielleicht ist das der richtige Begriff. Keine Furcht, er fürchtete sich vor nichts. Wenn ihm etwas einfiel, tat er es oder er versuchte, es zu tun -und das meiste davon schien absolut sinnlos zu sein. Er erreichte nichts damit, aber das machte ihm nichts aus. Vielleicht wollte er nichts erreichen. Sie haben von seinem Geschäft gehört, nicht wahr?»
«Glasperlen», sagte der Commissaris, «und Wolle.»
«Ja. Komische Sachen. Er hätte ein großer Geschäftsmann sein können, vielleicht Manager einer großen Firma, aber er zog es vor, Marktschreier zu sein, auf dem Markt in der Albert Cuypstraat. Ich wollte es zunächst nicht glauben, erst als ich mal hingegangen bin. Ein Schausteller, der die armen Hausfrauen hypnotisierte, der ihnen sagte, sie seien kreativ, der die häßlichen Strickjacken und scheußlichen Puppen bewunderte, die sie aus seinem Garn gemacht hatten. Es war rührend mitanzusehen, wie diese albernen, dicken Frauen seinen Stand umlagerten. Und er hätte fast sein Examen in Französisch gemacht. Ich kannte ihn von der Universität; er war der beste Student unseres Jahrgangs, der Stolz der Professoren. Seine Aufsätze waren brillant … Alles war originell, was er tat, aber …»
«Das hört sich an, als hielten Sie ihn für einen Versager», sagte der Commissaris, «aber anscheinend hatte er großen Erfolg. Sein Geschäft ging gut, er war ein reicher Mann, er reiste viel und war erst Anfang Dreißig …»
«Er war ein törichter Mensch», sagte die Frau, die der Commissaris in seinem Notizbuch als Corin Kops führte.
«Es ist nicht so töricht, geschäftlich erfolgreich zu sein», sagte der Commissaris. «Für viele Leute ist das immer noch das wichtigste Ziel.»
«So meinte ich das nicht. Ich meine, er vergeudete seine Talente. Er hätte der Gesellschaft etwas geben können. Die meisten Menschen vegetieren nur dahin wie Pilze. Sie wachsen und beginnen nach einer Weile abzusterben. Sie sind lebende Objekte, aber Abe war viel mehr als das.»
«Ja», sagte der Commissaris und ließ sich zurücksinken. «Durchaus. Sie sagten, Sie und er hätten über Bücher gesprochen. Welche Art von Büchern gefiel ihm?»
Sie spitzte die Lippen, als wolle sie pfeifen. Grijpstra schaute auf seine Uhr. Sein Magen knurrte. Hunger, dachte Grijpstra. Ich habe Hunger. Ich hoffe, er nimmt mich mit in eins dieser Bistros. Ich könnte ein ordentliches Steak und eine gebackene Kartoffel vertragen. Eine große gebackene Kartoffel.
«Bücher ohne eine Moral . Er las einige Reisebücher, geschrieben von Abenteurern. Leute, die nur umherstreiften und ihre Gedanken niederschreiben. Und er mochte surrealistische Bücher.»
«Surrealistische?» rührte Grijpstra sich.
«Es ist eine Philosophie. Surrealistische Autoren gehen tiefer als gewöhnliche Romanschreiber, indem sie Träume und ungewöhnliche Assoziationen
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